Hintergrund - 06.06.2025 - 10:00
Die Kritik ist nicht neu: Entscheidungen erscheinen oft undurchsichtig, Prozesse langwierig, Politikerinnen und Politiker wirken abgekoppelt vom Alltag der Menschen. Während Wahlkämpfen oder bei Umfragen hört man immer wieder: «Wir fühlen uns nicht abgeholt.» Gerade junge Menschen, aber auch bildungsferne Gruppen äußern das Gefühl, dass ihre Stimme wenig zählt – und dass die Politik vor allem für Eliten oder finanzstarke Interessengruppen gemacht ist.
Digitale Tools können dazu beitragen, Demokratie zugänglicher zu machen. Sie bieten Chancen, politische Entscheidungsprozesse transparenter zu gestalten und neue Formen der Beteiligung zu ermöglichen. Bürgerinnen und Bürger könnten so nicht nur informiert, sondern aktiv in Entscheidungen eingebunden werden – etwa durch Online-Abstimmungen, partizipative Haushaltsplanungen oder Ideenplattformen.
Ja, weltweit gibt es zunehmend solche Initiativen – auch wenn sie nicht immer große Aufmerksamkeit erfahren. Europa ist hier federführend. Pilotprojekte gab es bereits in Island, Finnland, Spanien oder in den Niederlanden. In Taiwan hat die ehemalige Digitalministerin Audrey Tang ebenfalls solche Plattformen eingeführt und damit die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik steigern können. In Spanien habe ich einige Projekte genauer untersucht, die zwischen 2013 und 2019 stattfanden.
In Spanien wurden mehrere digitale Demokratieprojekte realisiert, insbesondere in Städten wie Madrid und Barcelona. Ausgangspunkt war eine breite gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Als neue, lokal verankerte Parteien bei Kommunalwahlen Erfolge feierten, starteten sie Projekte zur stärkeren Bürgerbeteiligung – mit technischer Unterstützung von Aktivist:innen und Programmierer:innen.
Zentral war die Plattform Decide Madrid, die Bürgerinnen und Bürgern verschiedene Beteiligungsformen bot:
Der große Unterschied liegt im Design. Während soziale Netzwerke oft auf Reichweite, Emotion und Viralität setzen, zielen digitale Demokratieplattformen auf Dialog, Deliberation und Substanz. Features wie «Likes», Trending-Themen oder algorithmische Verstärkung wurden vermieden. Stattdessen geht es darum, echte Gespräche zu fördern – nicht um Klickzahlen.
Ein zentrales Spannungsfeld liegt zwischen Datenschutz und Nutzerfreundlichkeit. Viele Projekte wollten bewusst möglichst wenig Daten sammeln – das stärkt das Vertrauen, erschwert aber gleichzeitig die Analyse, welche Bevölkerungsgruppen teilnehmen und wer möglicherweise ausgeschlossen bleibt.
Die Nutzung könnte oft besser sein – das zeigen auch die Erfahrungen aus Spanien. Beim Projekt in Madrid waren etwa überwiegend gut gebildete Personen mit akademischem Hintergrund aktiv auf den Plattformen.
Eine zentrale Erkenntnis aus den Projekten lautet: Technologie allein genügt nicht. Damit digitale Beteiligungsformate wirklich wirken, braucht es begleitende Bildungsarbeit, transparente Kommunikation und reale Ansprechpersonen. Erst wenn Menschen erleben, dass ihre Beiträge tatsächlich etwas bewegen, wächst auch ihre Bereitschaft zur Mitwirkung.
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Ansprache: Viele frühe Projekte erreichten vor allem bereits engagierte oder technikaffine Personen. Doch aktuelle Studien zeigen: Auch marginalisierte Gruppen lassen sich einbinden – wenn man gezielt auf sie zugeht. Kooperationen mit Schulen, Vereinen oder der Sozialarbeit können dabei helfen. Entscheidend ist also nicht nur, was die Plattform bietet, sondern wie sie eingeführt und in die Gesellschaft eingebettet wird.
Ich denke, diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten – aber ich würde vorsichtig sein mit der Vorstellung, dass wir auf Politiker:innen ganz verzichten können. Natürlich könnten digitale Technologien theoretisch ermöglichen, dass wir Entscheidungen in Echtzeit treffen, auf Basis von Online-Abstimmungen oder Algorithmen, die Stimmungen auswerten. Aber das allein ist keine Demokratie.
Demokratie lebt vom Dialog – davon, dass Menschen sich austauschen, Interessen abwägen, Kompromisse finden. Genau dafür braucht es auch Personen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die institutionelle Abläufe kennen und politische Vorschläge umsetzen können. Es gab etwa in der Pandemie Versuche mit digitalen Bürgerräten, wo Menschen per Losverfahren über Parteigrenzen hinweg zusammengebracht wurden, um über komplexe Themen zu beraten. Das funktioniert erstaunlich gut – aber auch da braucht es am Ende ein System, das die Ergebnisse in Gesetzgebung übersetzt.
Ja – wenn sie richtig eingesetzt werden. Digitale Demokratieplattformen zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich einzubringen, wenn sie ernst genommen werden. Sie können helfen, konkrete Probleme vor Ort zu lösen, politische Bildung zu fördern und den Austausch zu stärken. Entscheidend ist dabei: Die Technik muss den Menschen dienen – nicht umgekehrt. Nur dann kann digitale Demokratie zu einer echten Chance für die Zukunft werden.
Roberta Fischli, PhD, ist externe wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Economics and Social Sciences der Universität St.Gallen. Ab August forscht sie an der Stanford Universität zum Thema Künstliche Intelligenz und Freiheit.
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