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Hintergrund - 22.11.2024 - 09:00 

«Die Ökonomie lässt sich nicht gut vorhersagen, aber im Nachhinein immer gut erklären»

Am Aktienmarkt geht die Angst vor einer Blase um. Gleichzeitig haben wichtige Zentralbanken wie die FED und die EZB nach einigen Jahren der Inflationsbekämpfung wieder auf tiefere Leitzinsen umgestellt. Dr. Carolin Güssow vom Schweizerischen Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung der HSG erklärt im Interview die Zusammenhänge zwischen Geldpolitik und den Entwicklungen an den Aktienmärkten.
Quelle: HSG Newsroom

Carolin Güssow, man sagt, tiefe Leitzinsen kurbeln den Aktienmarkt an. Können Sie uns erklären, warum das so ist?

Um dies zu veranschaulichen, muss man den Prozess etwas genauer auseinandernehmen. Denn es gibt viele Zwischenschritte, bevor tiefe Leitzinsen auf den Aktienmarkt durchschlagen können.

Was ist der erste Zwischenschritt?

Zuerst müssen wir die Begrifflichkeiten klären. Es gibt einen sogenannten Interbankenmarkt. Das ist ein Markt, auf dem sich die Banken untereinander Zentralbankengeld zu einem gewissen Zinssatz, nennen wir ihn Interbankenzinssatz, ausleihen. Der Leitzinssatz ist nun der von der Zentralbank angestrebte Interbankenzinssatz.

Welche Möglichkeit hat die Zentralbank, um diesen Interbankenzins zu beeinflussen?

Die Zentralbank kann die obere und untere Grenze dieses Interbankenzinses beeinflussen. Betrachten wir zuerst die untere Grenze. Dazu muss man wissen, dass die Banken Zentralbankengeld bei der Zentralbank liegen haben, sogenannte Reserven. Auf diese kann die Zentralbank einen selbst festgelegten Zins bezahlen, der dann die untere Grenze des Interbankenzinses festsetzt. Denn für Banken entstünde im Vergleich zu ihren bei der Zentralbank geparkten Reserven ein Verlustgeschäft, würden sie diese an andere Banken zu einem tieferen Zinssatz verleihen.

Und wie kann die Zentralbank die obere Grenze des Interbankenzinssatzes beeinflussen?

Die Zentralbank kann den Banken auch selbst Zentralbankengeld leihen und festsetzen, wie viel Zins diese dafür zahlen müssen. Dieser Zins stellt dann die obere Grenze des Interbankenzinssatzes dar. Denn keine Bank würde auf dem Interbankenmarkt Zentralbankengeld zu einem Zins borgen, der höher ist als jener der Zentralbank.

Und wenn der Interbankenzins tief ist, können Banken auch günstigere Kredite an Unternehmen gewähren, was die Wirtschaft ankurbeln soll?

Genau, tiefe Zinsen sollten dazu führen, dass Banken leichter oder mehr Kredit für hoffentlich tolle neue Geschäftsideen der Unternehmen vergeben können, die die Produktivität der Wirtschaft und damit das Wachstum steigern. Diese Hoffnung – dass Unternehmen vergünstigt Kredit bekommen und damit in der Zukunft erfolgreicher sein werden – beflügelt die Aktienkurse schon heute.

Sehen Sie noch weitere Wirkmechanismen von tiefen Leitzinsen auf Aktienmärkte?

Es gibt ein weiteres Element, das zu berücksichtigen ist. Die sinkenden Zinsen auf dem Interbankenmarkt wirken sich auch auf andere, ähnliche Finanzmärkte aus. Zum Beispiel ist eine kurzfristige Staatsanleihe in gewisser Weise vergleichbar mit einem Kredit auf dem Interbankenmarkt: Sie ist kurzfristig, also hat eine Laufzeit von nur einem Tag bis zu wenigen Wochen und gilt als sichere Anlage. Wegen der niedrigeren Zinsen auf dem Interbankenmarkt könnten Banken nun auf die Idee kommen, dass sie mehr Gewinn machen können, wenn sie kurzfristige Staatsanleihen kaufen, statt ihr Zentralbankgeld auf dem Interbankenmarkt zu verleihen. Denn die Verzinsung dieser Staatsanleihen ist nicht direkt vom niedrigeren Leitzins betroffen und bietet daher eine relativ höhere Rendite.

Das heisst, die tiefen Zinsen auf dem Interbankenmarkt schaffen für Banken einen Anreiz, um in kurzfristige Staatsanleihen zu investieren?

Genau und wenn viele Banken diese Strategie verfolgen, steigt die Nachfrage nach kurzfristigen Staatsanleihen, was deren Preis erhöht. Da bei Anleihen der Preis und die effektive Verzinsung oder Rendite in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen, sinkt die Rendite mit steigendem Preis. Auf diese Weise erreicht die Zinssenkung der Zentralbank letztendlich auch den Markt für kurzfristige Staatsanleihen.

Und was hat der Markt für Staatsanleihen nun mit den Aktienmärkten zu tun?

Wenn nun der Markt für kurzfristige Staatsanleihen unattraktiv geworden ist, werden auch andere Finanzinvestoren in attraktivere ähnliche Märkte umschichten. Dann steigt dort der Preis und die Rendite sinkt. Dieser Prozess wiederholt sich solange, wie es ähnliche Märkte gibt. Irgendwann gibt es keine ähnlichen Produkte mehr und das Zinsniveau bzw. Rendite ist bei allen einigermaßen kurzfristigen Finanzprodukten gesunken. Dieser Vorgang wird als Transmissionsmechanismus der Geldpolitik bezeichnet, der diese Portfolioumschichtungen auslöst. Infolgedessen werden alle Märkte, die dem Interbankenmarkt ähneln, für Finanzinvestoren weniger attraktiv. Sie suchen dann nach anderen Anlagemöglichkeiten, wie zum Beispiel dem Aktienmarkt, womit deren Preise durch die erhöhte Nachfrage wiederum steigen.

Schaut man sich die Realwirtschaft an, sind die Aussichten ja eher trübe. Auf dem Aktienmarkt scheint dies jedoch gar keine Rolle mehr zu spielen?

Wir haben gerade hergeleitet, dass die Finanzmärkte mit tiefen Zinsen nicht sehr attraktiv zum Investieren sind. Andererseits helfen tiefe Zinsen Unternehmen und anderen Akteuren, günstig Kredit zu bekommen und tolle Investitionsideen umzusetzen. Das beflügelt Aktienmärkte heute, weil die Zukunftsaussichten mit tiefen Zinsen positiv sein sollten. Diese Ideen werden aber nicht nur über Kredite bei der Bank finanziert, sondern auch direkt auf Kapital- und Finanzmärkten. In wirtschaftlich trüben Zeiten gibt es viel weniger von diesen neuen Investitionen, weil die Zukunft unsicher ist. Und auch wenn es sie gibt, sind Investoren vorsichtiger und flüchten lieber in Sachanlagen wie etwa Gold und Immobilien, aber eben auch in Aktien, die ja Unternehmensbeteiligungen sind Das lässt die Börsenkurse und andere Werte trotz oder wegen trüber Aussichten steigen – mangels Alternativen. Die Rallye auf den Aktienmärkten hält so lange an, bis die Realität sie einholt: Entlassungen Standortschliessungen führen dann zu sinkenden Kursen. Empirisch ist dieses Phänomen bekannt: Vor Rezessionen oder Wirtschafskrisen steigen die Vermögens- oder Sachwerte

Heisst das, dass aus Ihrer Sicht vieles für eine Aktienblase spricht, die jederzeit platzen könnte?

Einen Riesenabsturz auf breiter Front sehe ich nicht, aber ich kann mich auch gut täuschen. Aktienmärkte sind immer für Überraschungen gut. Da spielen auch viele psychologische Faktoren mit wie z.B. Herdenverhalten. Die Ökonomie lässt sich nicht exakt vorhersagen, aber im Nachhinein immer gut erklären.

 

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