Hintergrund - 01.02.2023 - 09:20
Die Werke des chinesischen Gegenwartskünstler und Menschenrechtler Ai Weiwei spiegeln aktuelle geopolitische wie gesellschaftliche Fragestellungen. Sie werden auf der ganzen Welt ausgestellt. An der HSG ist er zu Gast als «Artist in Residence». Vermittelt wurde der Auftritt von Uli Sigg, der im vergangenen September als «Personality in Residence» selbst im SQUARE eingeladen war. Neben der öffentlichen Veranstaltung im weitläufigen Erdgeschoss des SQUARE nahm Ai Weiwei an zwei Anlässen mit Studierenden und Dozierenden teil. «Der aktive Dialog mit Kunstschaffenden ist Teil der Ausbildung an der HSG», sagte Rektor Bernhard Ehrenzeller in seiner Ansprache. Die Auseinandersetzung mit Werken von Giacometti, Miro, Richter, Yan Pei-Ming, um nur einige zu nennen, prägen den Campus seit 50 Jahren.
Gelassen und milde lächelnd betritt Ai Weiwei die Bühne. Er ist zum allerersten Mal in St.Gallen. Neugierig stellt er sich den Fragen der beiden Gastgeber. Er antwortet mit leiser Stimme, ruhig und bedacht. Der Weltstar ist vor allem ein nachdenklicher Mensch. Er versuche mit seinen Werken eine Sprache zu finden, die Gefühle vermittelt. Wieviel seine Werke auf dem Kunstmarkt wert seien, interessiere ihn wenig.
Was macht «gute Bildung» aus? Lediglich Wissen und Skills anzusammeln, sei reine Zeitverschwendung, so Ai Weiwei. Die Ausbildung an Universitäten, glaubt er, fokussiere zu stark auf Wettbewerb. Wichtig sei doch die Ausbildung von Menschlichkeit – von Mitgefühl und Verständnis für andere Denkweisen, die Literatur sei da eine gute Schule. Es gehe weniger um Antworten als um die richtigen Fragen.
Was ist im Leben wichtig? Eine Handvoll guter Freunde und das Leben als Geschenk anzusehen, resümiert Ai Weiwei. Er mache sich keine Sorgen, was andere über ihn oder seine Kunst denken. Berührt reagiert der Künstler auf Fragen nach seiner Familie. Wie sein Sohn heute, so habe auch Ai Weiwei nicht auf seinen Vater gehört – als er aus seinem Heimatland nach New York flüchtete, lediglich mit 30 Dollar in der Tasche und des Englischen kaum mächtig. Er vermisse den persönlichen Kontakt mit seiner in China verbliebenen 90-jährigen Mutter. Das Handy und Bildtelephonie, merkt er medienkritisch an, könnten nie ein Ersatz für wirkliche Begegnungen sein.
Natürlich geht es an diesem Abend auch um China. Als Stärke seines Heimatlandes erachtet Ai Weiwei die Effizienz und Geschwindigkeit, mit der man dort auf Änderungen reagiert. Der Lebensstandard, insbesondere in den Städten, habe sich über die Jahre deutlich verbessert. Kontrollen des Staates werden jedoch immer stärker. Im Westen haben Bürgerinnen und Bürger Freiheiten und Rechte. Die Migrationspolitik in Europa aber sei scheinheilig, kritisiert Ai Weiwei. Als Künstler ist er immer auch Aktivist. Er schaut nicht weg. Menschen sterben im Meer, so sagt er, während über soziale und politische Lösungen diskutiert werde.
Ai Weiwei im SQUARE – es war ein Abend der grossen Fragen und leisen Töne. Der Künstler als Mahner, als Zweifler, bescheiden im Auftreten und doch stets zu Scherzen aufgelegt. Kunst und Humanität sind für Ai Weiwei nicht zu trennen. Das Publikum hörte ihm gebannt zu.
Bilder: Salome Bänziger