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Hintergrund - 30.09.2022 - 00:00 

Persischer Herbst – Die Proteste im Iran und ihre Folgen

Der Tod der Studentin Mahsa Amini am 16. September 2022 löste landesweite Demonstrationen im Iran aus. Waren bis anhin Proteste an bestimmte Anliegen geknüpft, geht es nun um das System als solches. Doch wird dieser Aufstand Erfolg haben? Um dies zu beurteilen, lohnt sich eine Einordnung im Kontext des «Arabischen Frühlings». Eine Analyse von Dr. Andreas Böhm.

30. September 2022. Am 4. Januar 2011 verstarb Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler aus Sidi Bouzid in Tunesien. Zwei Wochen vorher hatte er sich aus Verzweiflung selbst angezündet, nachdem die Polizei aus reiner Willkür seinen Stand konfisziert und ihn somit seiner Erwerbsgrundlage beraubt hatte. Die Nachricht seines Todes wirkte wie ein Funken, der die schwelende Unzufriedenheit über eine korrupte, unfähige, aber allmächtige Staatsgewalt zu explodieren brachte. Proteste breiteten sich wie ein Lauffeuer aus und veranlassten zehn Tage später die Flucht des verhassten Diktators Ben Ali. Der Beginn des «Arabischen Frühlings» verhiess die Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung.

 

 

 

 

Dieser Fall wirkt wie ein Prisma, das die aus verschiedenen Quellen stammende Wut bündelt.

 

 

 

Am 16. September 2022 verstarb Mahsa Amini, eine Studentin aus den kurdischen Provinzen im Iran. Auf Besuch in Teheran wurde sie von der Sittenpolizei wegen eines vermeintlichen Verstosses gegen die Kleiderordnung festgenommen. Ein Bild des misshandelten Leichnams wurde über soziale Medien geteilt und löste zunächst in ihrer Heimat Demonstrationen aus. Schnell verbreiteten sich die Proteste in allen Provinzen. Wer die Bilder sieht, wie Frauen ihre Kopftücher verbrennen, spürt ihre Wut und Entschlossenheit, die Unterdrückung zu beenden.

Indes, wird dies gelingen? Festzuhalten ist zunächst, dass diese Proteste tatsächlich eine neue Qualität darstellen. Zwar gab es immer wieder Demonstrationen wegen Wahlbetrugs, der grassierenden Inflation, der Wasserknappheit, aufgrund von Korruption oder des anmassenden Auftretens der Staatsgewalt. Doch waren diese meist lokal oder auf bestimmte Bevölkerungsschichten begrenzt. Sie drehten sich um einzelne Anliegen. Dieser Fall wirkt wie ein Prisma, das die aus verschiedenen Quellen stammende Wut bündelt. Auf der Strasse stehen Frauen und Männer, alt und jung, Bürgertum und Arbeiter, Liberale und Konservative, Perser, Kurden und Azeri. Selbst in der religiösen Hochburg Mashhad, Geburtsort des Revolutionsführers Khamenei, wurde eine Polizeiwache in Brand gesteckt. Ein Grund für breite Unterstützung der Proteste ist eine allgemeine Identifikation mit dem Opfer: «Mahsa Amini hätte auch unsere Tochter sein können.»

 

 

 

 

Die Legitimationsbasis der Islamischen Republik ist unwiederbringlich zerbrochen.

 

 

 

Man kann heute mit Bestimmtheit sagen, dass die Legitimationsbasis der Islamischen Republik in ihrer heutigen Gestalt unwiederbringlich zerbrochen ist. Waren bis anhin Proteste an bestimmte Anliegen geknüpft, geht es nun um das System als solches. Iran hat eine relativ junge und gut ausgebildete Bevölkerung, die indes im Arbeitsmarkt kaum Perspektiven geboten bekommt, während gut vernetzte Personen ihren teils obszönen Reichtum zur Schau stellen. Die junge Generation hat keinen Bezug mehr zur Revolution. Die digital natives wollen sich nicht von alten Männern vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben und schon gar nicht wollen sie von einer unfähigen Staatsmacht drangsaliert werden. Dass ihr Protest von vielen unterstützt wird, die bis anhin die Werte der Revolution, die auch nationale Selbstbestimmung versprach, geteilt haben, markiert einen Wendepunkt. Diesen Geist wieder in die Flasche zu drücken, ist aussichtslos.

Doch was kann dieser Geist bewirken? Klar ist, dass das Regime auch keinen Fall nachgeben wird. Bereits seit einiger Zeit wird eine härtere Linie verfolgt. Zudem trifft der Aufstand das Regime in einem ungünstigen Moment. Revolutionsführer Khamenei (83) ist gebrechlich. Seit er sich vor drei Wochen einer Notoperation unterziehen musste, ist die Nachfolgefrage virulent. Nominell muss der von einem 95jährigen Ayatollah geführte Expertenrat einen Nachfolger vorschlagen und wählen. Tatsächlich wird die Frage in einem undurchsichtigen Geschacher zwischen den verschiedenen Machtpositionen innerhalb der Staatsgewalt entschieden. Im jetzigen Klima wäre das für die Bevölkerung kaum akzeptabel. Mit der Androhung und Ausübung von Gewalt, verschiedener weiterer Repressalien, einem Unterbruch des Internets und weiterer Massnahmen wird das Regime versuchen, den Aufstand ausbluten zu lassen. Denn es ist wohl bereits eine kritische Masse erreicht, die eine gewaltsame Niederschlagung alleine nicht mehr zulässt.

Aber auch die Aufstände im Libanon oder Irak 2019 brachten eine solche kritische Masse auf die Strasse – im Libanon rund ein Viertel der Bevölkerung. Doch um einen solchen erfolgreich zu führen, braucht es Gegenmacht – Unterstützung aus dem Militär, den Sicherheitsdiensten oder anderen Teilen eines «tiefen Staates», von relevanten Akteuren aus Wirtschaft und Finanz oder von einer einflussreichen ausländischen Macht. In Tunesien konnten die Aufständischen gesellschaftliche Kräfte, insbesondere die Gewerkschaften, mobilisieren. Zudem entzogen Teile des Machtapparats dem Diktator Ben Ali das Vertrauen, sodass dieser mit seiner Entourage nach Saudi-Arabien flüchtete. Weil es tragfähige gesellschaftliche Strukturen gab, konnten in der Folge sowohl Armee und Sicherheitsdienste als auch die Muslimbrüder in ein, wenn auch wackliges, demokratisches System integriert werden – dessen Zukunft nach dem kalten Putsch des Präsidenten Saied nun allerdings fraglich ist.

Die Aufständigen im Libanon konnten auf keine Gegenmacht zählen, als das Machtkartell nach einer kurzen Schrecksekunde die Reihen schloss und sowohl die Proteste als auch die Appelle aus dem Ausland einfach abprallen liess. Nicht einmal die Explosion im Hafen Beiruts änderte daran etwas.

Zwar äusserten Stimmen um den ehemaligen Präsidenten Khatami und einzelne Geistliche ihre Unterstützung, doch fehlt auch den Aufständigen im Iran eine Gegenmacht. Es gibt keine alternativen gesellschaftlichen Strukturen, die sie nutzen könnten und auch keine halbwegs geeinte Opposition.

 

 

 

 

Die Bevölkerung soll vor eine Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt werden – mit der Diktatur als kleinerem Übel.

 

 

 

Es gehört zum Drehbuch einer jeden autokratischen oder diktatorischen Regierung, solche alternativen Strukturen zu eliminieren, um sich selbst als einzigen Garanten halbwegs stabiler Staatlichkeit zu inszenieren. Diktatur oder Anarchie als einzige Alternativen. Die Bevölkerung soll vor eine Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt werden – mit der Diktatur als kleinerem Übel. Selbst viele, die unter den brutalen Diktaturen von Saddam Hussein im Irak oder den Assads in Syrien gelitten haben, ziehen diese dem folgenden Machtvakuum vor, das von kaum eingeschränkter Gewalt geprägt wurde und wird.

Selbst wenn, etwa in einem Machtkampf um die Nachfolge Khameneis, Friktionen innerhalb des Machtgefüges auftreten sollten, würde dies kaum zu einer Öffnung, sondern eher zu einer Militärdiktatur der Revolutionsgarden führen. Durch die Sanktionen wurde deren Stellung in der Wirtschaft merklich gestärkt, da sie den Schmuggel kontrollieren. Sie wurden einmal sehr trefflich als ein bis zu den Zähnen bewaffnetes Industriekonglomerat bezeichnet. Eine Verschärfung bestehender bzw. Errichtung neuer Sanktionen träfe daher in erster Linie die Bevölkerung, nicht den Machtapparat.

Was bliebe also zu tun? In der Tat bieten sich keine guten Optionen. Selbst eine moralische Unterstützung des Aufstands stellt bei allem guten Willen unter den gegebenen Umständen ein Stück weit Zynismus dar. Übrig bleibt ein «Wandel durch Annäherung», für den der Atomvertrag JCPOA steht. Dieser verkörperte die Hoffnung, dass, über die unmittelbare Stossrichtung hinaus, die ökonomische Öffnung des Landes gerade die Mittelklasse besser stellen würde und diese auch auf politische Reformen dränge. Diese Hoffnung mag naiv sein, angesichts der vielschichtigen zivilisatorischen Geschichte des Iran, des hohen Bildungsniveaus und der Händlertradition ist sie zumindest nicht grundlos. Indes ist dieses Fenster vorerst geschlossen.

So bliebe die Hoffnung, dass es, vermutlich erst unter einem Nachfolger Khameneis, wieder zu einer Öffnung, zu Reformschritten kommt. Per se ist das nicht auszuschliessen, nur wird sich die Bevölkerung damit zufriedengeben?

So bleibt ein Paradox, das Antonio Gramsci beschrieben hat: Das Alte stirbt, das Neue kann noch nicht geboren werden. Es ist die Zeit der Krise, der «fenomeni morbosi.»

Dr. Andreas Böhm ist Direktor des Center for Philanthropy an der Universität St.Gallen und Lehrbeauftragter im Master of International Law.

Bild: Keystone / AP Philippos Christou

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