Forschung - 09.09.2025 - 11:14
Mit der Unterzeichnung der Kopenhagener Erklärung fordern mehr als 260 führende Nachhaltigkeits-Forschende die EU auf, sich stärker an der Wissenschaft zu orientieren. Sie kritisieren, dass Brüssel mit dem jüngsten Omnibus-Paket zentrale Pfeiler des Green Deal geschwächt habe – ein Schritt, der Unternehmen verunsichert und Europas Wettbewerbsfähigkeit schwächt.
Am 9. September 2025 wurde die Kopenhagener Erklärung veröffentlicht. Das Dokument ist ein Aufruf zu einer stärker evidenzbasierten Politikgestaltung in Bezug auf Nachhaltigkeit in der EU. In einem Interview erläutert Judith Stroehle, Assistenzprofessorin an der Universität St.Gallen (HSG) und Koautorin der Erklärung, was das Dokument beinhaltet, wie es entstanden ist und was es erreichen soll.
Judith Stroehle, Sie haben die Kopenhagener Erklärung zusammen mit sechs weiteren europäischen Wissenschaftlern geschrieben. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Dokument zu verfassen?
Wir trafen uns auf der jährlichen Tagung der Academy of Management in Kopenhagen und führten intensive Diskussionen darüber, wie die Europäische Kommission derzeit den Regulierungsprozess im Hinblick auf die Nachhaltigkeit von Unternehmen angeht. Wir waren alle der Meinung, dass die EU keinen ausgewogenen, evidenzbasierten Ansatz für die Regulierung der Nachhaltigkeit von Unternehmen verfolgt. Im Wesentlichen ignorierte sie eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wir waren der Meinung, dass es wichtig ist auf dieses Problem aufmerksam zu machen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Omnibus-Verfahren. Wir wollen hiermit signalisieren, dass die Wissenschaft eine wichtigere Rolle in der europäischen Politikgestaltung spielen kann und sollte.
Was ist das EU-Omnibus-Verfahren und wie wirkt es sich auf die Nachhaltigkeit europäischer Unternehmen aus?
Das Omnibus-Paket der EU vom Februar 2025 zielt darauf ab, die Berichtspflichten für Unternehmen zu reduzieren und die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu steigern, indem zwei Kernstücke des EU-Green-Deal vereinfacht werden: die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD) und die Richtlinie über die nachhaltigkeitsbezogene Sorgfaltspflicht von Unternehmen (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD). Die vorgeschlagenen Änderungen zielen auf Ausnahmeregelungen für kleinere Unternehmen, die Reduzierung des Umfangs der Sorgfaltspflicht in Lieferketten und die Vereinfachung der Berichtspflichten ab.
Zwar war eine Überprüfung all dieser Punkte in der Tat wichtig – da frühe Vorschläge zu Recht als zu komplex und übermäßig belastend kritisiert wurden –, doch hat die EU bei der Vereinfachung dieser Vorschriften einen «Brandrodungsansatz» verfolgt, anstatt eine Kosten-Nutzen-Analyse und damit eine fundierte Überprüfung durchzuführen. Letztendlich muss die Frage lauten: Wozu brauchen wir Nachhaltigkeitstransparenz, und welches Berichtsniveau ist förderlich, um dieses Ziel zu erreichen?
Mit dem Omnibus hat die EU innerhalb von zwei Sekunden einen Kurswechsel vollzogen und ist von der Meinung, dass «alle Informationen» (in den ursprünglichen Entwürfen) nötig wären zu der Meinung, dass «kaum Informationen» (im Omnibus) nötig sind übergegangen. Dies, jedoch, ohne eine evidenzbasierte Bewertung darüber vorzunehmen, wie Informationen tatsächlich in den Markt einfließen. Dies ist nicht nur frustrierend und beunruhigend für Unternehmen, die bereits mit dem Berichtsprozess begonnen haben, sondern auch kontraproduktiv für das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit als integrierte Ziele.
Was fordert die Kopenhagener Erklärung?
Sie zeigt unsere Besorgnis über die Zukunft der Nachhaltigkeitspolitik in Europa. In der Erklärung fordern wir die europäischen Entscheidungsträger auf, die Vereinfachung der Vorschriften auf evidenzbasierte Weise voranzutreiben, ohne die Integrität und Ambition der Agenda für nachhaltige Entwicklung in Europa zu beeinträchtigen.
Findet Ihrer Meinung nach derzeit eine evidenzbasierte Politikgestaltung statt?
Einfach gesagt: nein. Mit dem jüngsten EU-Omnibus-Prozess, mit dem die EU-Politiker im Wesentlichen auf geopolitische und globale Marktveränderungen reagierten, ist die EU schnell in einen Modus der Überkompensation verfallen. Innerhalb kürzester Zeit versuchte die Kommission daher, Rechtsvorschriften zurückzuziehen, die sie über ein Jahrzehnt hinweg ausgearbeitet hatte. Dies geschah ohne ein ordnungsgemässes Verfahren und ohne sinnvolle Einbeziehung von Interessengruppen und Fachleuten. Die Ergebnisse wirken daher selbst auf die grössten Befürworter der Vereinfachung unberechenbar, uninformiert und extrem.
Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Kopenhagener Erklärung?
Wir unterstützen zwar die Bemühungen zur Vereinfachung der europäischen Gesetzgebung. Wir möchten aber letztlich darauf hinweisen, dass diese auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, Kosten und Nutzen abwägen und für regulatorische Konsistenz sorgen muss.
Seit der Wahl von Donald Trump zeigt sich die amerikanische Regierung offen zurückhaltend gegenüber jeder Politik, die mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Wie wirkt sich das auf europäische Unternehmen aus?
Die meisten grossen und international tätigen europäischen Unternehmen verfügen bereits über solide Nachhaltigkeitsstrategien und berichten umfassend darüber. Sie sprechen in den USA vielleicht nicht mehr so laut darüber (was in letzter Zeit auch als «Greenhushing» bezeichnet wird), aber ich sehe nicht, dass sie ihre Bemühungen zurückfahren. Im Gegenteil, viele Unternehmen sind frustriert über den aktuellen europäischen Prozess, weil sie seit vielen Jahren in Nachhaltigkeit investieren und fest von deren Vorteilen überzeugt sind.
Kleinere und mittlere Unternehmen in Europa sind noch dabei zu lernen, wie sie Nachhaltigkeit strategisch angehen können. Sie würden die Unterstützung der EU benötigen, um diese Bemühungen ausgewogen zu steuern, gerade wegen der gegenläufigen Kräfte wie der aktuellen US-Regierung. Ich befürchte, dass der Omnibus-Prozess die Situation für sie nur noch verwirrender und komplizierter macht.
Wie kann die EU-Regierung sich konkret stärker an der Klimawissenschaft orientieren?
Um den Green Deal voranzutreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, muss die EU grundsätzlich Klarheit über ihre Wirkungslogik schaffen und genau analysieren, wie ihre «Vereinfachungen» dazu beitragen. Wissenschaftlerinnen können bei der Analyse dieser Logiken helfen. Dazu muss jedoch ein ordnungsgemässes Verfahren entworfen werden welches Experten mit einbezieht, damit die Klima- und Nachhaltigkeitswissenschaft in diese Debatte einfliessen kann. Mit anderen Worten: Es gibt reichlich Evidenz und Fachwissen, aber es fehlen die Kommunikationskanäle, um dieses effektiv zu teilen.
In der Erklärung wird erwähnt, dass Nachhaltigkeit nicht als regulatorische Belastung, sondern als strategischer Vorteil für Europa gesehen werden sollte. Wie kann oder sollte Europa dies als Vorteil nutzen?
Der jüngste EU-Omnibus-Prozess verschiebt die Wahrnehmung von Nachhaltigkeit als eine Chance für europäische Unternehmen und den europäischen Markt hin zu einem reinen Kostenfaktor. Die Devise von Omnibus lautet daher «je weniger, desto besser». Das ist nicht nur schädlich, sondern auch sachlich falsch. Wir verfügen über zahlreiche wissenschaftliche Belege für den positiven Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit, Resilienz und unternehmerischem Erfolg.
Die Frage muss daher lauten, wie wir durch Nachhaltigkeit langfristig den grösstmöglichen Nutzen erzielen und gleichzeitig die akuten Kosten minimieren. Das ist eben jenes Kosten-Nutzen-Denken, das derzeit in der Debatte fehlt.
Wie wirkt sich das auf die Schweiz aus? Auf Deutschland? Und auf Grossbritannien?
Deutschland ist als EU-Land direkt vom Omnibus betroffen. Aber auch Organisationen aus der Schweiz und Grossbritannien können diese Debatten nicht ignorieren. Ob durch Lieferketten, Geschäftspartnerschaften oder Direktverkäufe – die meisten Unternehmen in diesen beiden Ländern sind auf die eine oder andere Weise vom europäischen Gesetzgebungsprozess betroffen.
Interessierte Wissenschaftler (Fakultäten) werden ermutigt, die Kopenhagener Erklärung zu unterzeichnen.
Prof. Dr. Judith Ströhle ist Assistenzprofessorin für Nachhaltigkeitsgovernance an der Universität St.Gallen.
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