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Forschung - 18.06.2024 - 08:17 

«Geschichten haben grossen Einfluss auf die Debatte über Sterbehilfe»

Wie beeinflussen Kunst- und Medienwerke wie Filme, Bücher und Social Media-Inhalte die Politik und Gesetzgebung zur Sterbehilfe? Dieser Frage geht ein interdisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung der HSG-Literaturwissenschaftlerin Anna Elsner nach. Die Erkenntnisse aus dem Projekt sollen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte um die Sterbehilfe leisten.

Bildlegende: Die HSG-Forschenden Alexander Meienberger, Anna Elsner sowie Marc Keller sind Teil des "Assisted Lab".

Ein Mann, der nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt ist, kämpft darum, seinem Leben ein Ende zu setzen. Als ihm dies vor Gericht verwehrt wird, nimmt er sich mit Hilfe einer Freundin das Leben. Mit dieser wahren Geschichte hatte der Spielfilm «Mar Adentro» im konservativ-katholisch geprägten Spanien in den 2000er-Jahren eine Debatte über die Legalisierung der Sterbehilfe ausgelöst. «Das ist ein Beispiele, bei dem eine künstlerisch verarbeitete Geschichte einen starken Einfluss auf den politischen Prozess hatte», sagt Anna Elsner. Sie ist HSG-Professorin für Französische Kulturwissenschaft und Medical Humanities. Unter ihrer Leitung geht ein achtköpfiges internationales Forschungsteam seit März 2023 der Frage nach, wie kulturelle Produkte wie Film, Literatur und andere Medien die politische Debatte und die Gesetzgebung rund um die Sterbehilfe beeinflussen. Ihre Forschungsgruppe nennen sie «Assisted Lab», ein Verweis auf «Assisted Dying», also Sterbehilfe.

Ermöglicht wird das Forschungsprojekt durch einen Starting Grant des European Research Council bis 2028. «In unserer Arbeit nehmen wir verschiedene Sprachregionen und Kulturen sowie unterschiedliche Rechtssysteme in den Blick. Wir wollen einen differenzierten Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten über Sterbehilfe leisten», sagt Elsner.  Und sie betont, dass das Forschungsprojekt weder für noch gegen Sterbehilfe Stellung beziehe. «Als Wissenschaftler wollen wir möglichst objektiv Erkenntnisse darüber gewinnen, wie Sterbegeschichten Gesetzgebungsprozesse beeinflussen.»

Die Diskussion um Sterbehilfe ist weltweit in Bewegung

Die Forschenden reihen sich damit in eine weltweite Debatte ein. So will Emmanuel Macron aktuell das restriktive Sterbehilfegesetz in Frankreich liberalisieren. Widerstand kommt unter anderem von den Palliativmedizinern. Tendenziell gehe die Entwicklung in der Gesetzgebung international dahin, dem Einzelnen möglichst viel Autonomie in der Frage des eigenen Sterbens einzuräumen, sagt Elsner.

Auf der Plattform assistedlab.ch hat das Forschungsteam nun eine erste Sammlung, ein sogenanntes «Living Archive of Assisted Dying», zugänglich gemacht. Dafür haben sie rund 300 Medien gesichtet, die nach dem Jahr 2000 erschienen sind und die Geschichten rund um die Sterbehilfe erzählen. Die einzelnen Einträge geben zum ersten Mal einen Überblick darüber, in welchen politischen Debatten oder teilweise sogar Gesetzestexten kulturelle Produktionen zitiert wurden. «Das Archiv ist öffentlich zugänglich und soll von verschiedenen Gruppen genutzt werden», sagt der HSG-Germanist Marc Keller, der für das Projekt deutschsprachige und niederländische Medien sichtet und auswertet. Keller und Elsner tauschen sich für das Projekt in Experteninterviews auch regelmässig mit Anwält:innen, Politiker:innen und Ärzt:innen aus.

Neben dem öffentlichen Archiv produziert das Team einen Podcast, in dem Forschende, Kunstschaffende oder Rechtsexpert:innen zu Wort kommen sollen. Außerdem kommuniziert es über das soziale Netzwerk X über Neuigkeiten aus dem Projekt. Auf der Website des Archivs gibt es zudem einen Button, mit dem Externe die Forschenden auf Medien aufmerksam machen können. 

Laufend neue Fragen rund um Sterbehilfe

Das Team bezieht auch Medienformate wie Newsletter oder Videos auf sozialen Netzwerken in die Analyse mit ein. «Auch deshalb sind wir am Austausch mit der Öffentlichkeit interessiert - aufgrund der Vielfalt der Medien und Aspekte können wir selbst nicht alle Produktionen zum Thema im Blick behalten», sagt Keller. Mit der Öffentlichkeit traten die «Assisted Lab»-Mitglieder bisher auch schon in Podiumsdiskussionen rund um kulturelle Produktionen in Austausch. Diverse Artikel basierend auf dem Archiv sowie über das Archiv sind bereits erschienen und eine Veröffentlichung einer abschliessenden Studie ist auf 2028 geplant. «Wir müssen uns bis dahin immer wieder auf aktuelle Entwicklungen und Debatten rund um die Sterbehilfe einstellen und neue Fragen aufgreifen - das macht unsere Arbeit zu diesem Thema ungemein spannend», sagt Elsner.

 

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