Die Universität St.Gallen ist im April 2024 provisorisch ins Haus Washington an der Rosenbergstrasse eingezogen. Ein geschichtsträchtiges Gebäude, in dem sich die vielgestaltige Verbundenheit der Stadt St.Gallen mit der Textilindustrie widerspiegelt, aus der letztlich auch die Gründung der HSG hervorgegangen ist.
Das Haus Washington wurde 1891/92 von den St. Galler Architekten Wendelin Heene und Carl Forster erbaut. Sie waren unter anderem auch für den Bau der Stickereibörse an der Neugasse (heute Globus) verantwortlich. Über die Bauherrschaft des Washington sind verschiedene Informationen überliefert: In den Quellen treten entweder die Architekten selbst, der Textilkaufmann Leopold Iklé oder der Spekulant und Zementfabrikant Werner Graf als Bauherren auf. Gesichert ist, dass das Haus ab 1894 Werner Graf gehörte. Ansässig im Haus war die Stickereifirma «Stauder & Co.» und die Textilfirma «Iklé Frères», deren Teilhaber Leopold Iklé auch in der Liegenschaft wohnte. Die Iklé waren eine der bedeutendsten Familien der Textilindustrie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Ostschweiz. Leopold Iklé (1838–1922), Sohn des Hamburger Textilindustriellen Moses Iklé, liess sich 1861 in St.Gallen nieder und übernahm dort mit seinen Brüdern Adolph und Ernst die Firma «Iklé Frères», die in der Fabrikation und im Export von Stickereiwaren führend war. So eröffneten die Brüder im Jahr 1880 in St.Gallen Straubenzell die erste Fabrik mit Schifflistickmaschinen in der Ostschweiz.
Der Name «Washington» spielt auf die internationale Geschäftstätigkeit der Stickereifirmen an, sowohl die «Iklé Frères» als auch die Firma «Stauder & Co.» besassen Niederlassungen in ganz Europa und in den USA. Im 19. Jahrhundert wurden in St.Gallen mehrere Gebäude mit klingenden internationalen Namen wie beispielsweise «Atlantic», «Oceanic» oder «Columbia» versehen.
Architektonisch war das Haus Washington zu seiner Bauzeit in der Stadt St.Gallen eine Neuheit. Die Fassade des hufeisenförmigen Wohn- und Geschäftshauses ist ausgiebig mit neobarocken Stilelementen verziert und erinnert an die Bauten des Wiener Ringstrassen-Projektes. Im Innern zeigt das aufwendig restaurierte repräsentative Treppenhaus, wie es damals im ganzen Haus ausgesehen haben muss: Die Wände sind üppig mit Dekorationsmalerei verziert und lassen den Raum zusammen mit den farbenfrohen Säulen und Böden warm und lichterfüllt wirken.
1901 wurde das Haus Washington von der schon vorher im Haus ansässigen Textilfirma «Stauder & Co.» erworben, die das Haus 1923 an Max Stoffel weiterverkaufte, dem Direktor der 1795 in Arbon gegründeten und ab 1860 in St. Gallen ansässigen «Stoffel & Co.» (ab 1962 «Stoffel AG»). Die Firma konzentrierte sich zunächst nur auf den Handel mit Textilien und widmete sich erst später nach dem Erwerb einiger Stickereifabriken auch der Produktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die «Stoffel AG» eine der führenden Textilfirmen der Schweiz. Der Geschäftssitz der international tätigen Firma blieb auch nach deren Verkauf an «Burlington» und später an «Legler» bis 1982 an der Rosenbergstrasse. Daneben waren aber immer noch andere Unternehmen im Haus eingemietet, so zum Beispiel ab 1942 der Ostschweizer Zweig der Eidgenössischen Militärversicherung.
Nach der Schliessung des Geschäftssitzes der «Stoffel AG» im Haus Washington wurde die Liegenschaft unter anderem dem Kanton St.Gallen zum Kauf angeboten. Im Zuge dessen prüfte der Kanton die dortige Unterbringung von HSG-Instituten. Das Rektorat lehnte dieses Angebot nach einer Besichtigung des Gebäudes mit dem Kantonsbaumeister im November 1982 ab. Die Ablehnung wurde so begründet, dass der Raumbedarf der Hochschule damit nicht gedeckt werden könne und zu umfassende Umbauarbeiten vonnöten wären. Das Rektorat befürchtete Kritik von Mitarbeitenden und Studierenden wegen der Dezentralisation der Hochschule beim Bezug eines Gebäudes am Fuss des Rosenbergs. Ein wesentlicher Grund war sicher auch der besser auf die Bedürfnisse der Universität zugeschnittene Ergänzungsbau, dessen Planung 1982 abgeschlossen war. Die Volksabstimmung über diesen Bibliotheksbau, die 1985 anstand, sollte nicht durch ein anderes Projekt gefährdet werden.
Nachdem die HSG eine Nutzung des Gebäudes abgelehnt hatte, wurden Verwaltungsabteilungen des Kantons, eine Gemäldegalerie, das österreichische Konsulat und ein Anwaltsbüro im Haus Washington untergebracht. 1984 wurde die Liegenschaft schliesslich von zwei Zürcher Geschäftsleuten gekauft.
Am 30. April 1986 ging das Haus Washington an die «Helvetia Schweizerische Feuerversicherungs-Gesellschaft» über, die das Gebäude umfassend renovieren liess. Im Rahmen dieser Arbeiten, die über zwei Jahre dauerten, wurde u. a. die Figur der Helvetia in die Fassade eingefügt, die aus Material gefertigt wurde, das aus dem gleichen Steinbruch stammt wie die Originalfassade. Im Innern wurden die weiss übermalten Wandmalereien wieder freigelegt und restauriert. Am 15. Juli 1986 konnten die Mitarbeitenden der Helvetia Versicherung ihre Arbeitsplätze beziehen.
Nach einer weiteren Sanierung des Gebäudes im Jahr 2023 übernahm die HSG ab April 2024 das Gebäude für vorerst 15 Jahre von der Helvetia als Zwischenlösung, bis das Projekt «Campus Platztor» abgeschlossen ist.