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Meinungen - 31.08.2016 - 00:00 

Brasilien: Marathon aus der Krise?

Nach der Olympischen Fiesta in Rio de Janeiro steht Brasilia im Fokus. Dort stimmte der Senat der Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff zu. Neben Antikorruptions-Kampagnen sind tiefergreifende Reformen erforderlich, um die Lebensbedingungen für die gesamte brasilianische Bevölkerung zu verbessern. Ein Meinungsbeitrag von Dr. Angélica Rotondaro und Dr. Rolf Rauschenbach.

1. September 2016. Die olympische Fiesta in Rio de Janeiro gehört der Vergangenheit an, doch das Fernsehspektakel geht ungebrochen weiter: Nach den internationalen Sportwettkämpfen zoomen sich die Kameras nun auf Brasilia heran, wo das endgültige Urteil über die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff ausgesprochen wurde. Darauf wird zweifelsohne eine umfassende Berichterstattung über die Antikorruptionsprozesse folgen.

Die Präsidentin nutzte ihre Befragung nicht dazu, den Senat dazu anzuhalten, gegen ihre definitive Absetzung zu stimmen, sondern eher als Gelegenheit zur Rechtfertigung nach dem Motto «Andere mögen korrupt sein, aber ich bin’s nicht».

Korruption – Ursache oder Wirkung?

Die Korruptionsbesessenheit fusst auf der Vorstellung, dass die Korruption die Ursache aller Schwierigkeiten sei. Aber trifft das zu? Unseres Erachtens ist die Korruption vielmehr ein Ergebnis und nicht die Ursache der dramatischen Sachlage in Brasilien. Allgemein gesehen ist die Korruption die Folge eines Machtgefälles und/oder unzureichender Entscheidungsprozesse, die ihrerseits wiederum Ungleichgewichte schaffen. Und was alles noch schlimmer macht: Das Land ist mit tiefgreifenden institutionellen Problemen konfrontiert.

Krise der Institutionen

Theoretisch besitzt Brasilien eine der modernsten bundesstaatlichen und demokratischen Verfassungen, und angesichts seiner Staatsquote von 38 Prozent des BIP sind die Mittel zur Produktion öffentlicher Güter in reichlichem Masse vorhanden.

In Wirklichkeit wird das Land indes per Notverordnung regiert, jedoch ist die Regierung auch so noch ausserstande, die grundlegenden öffentlichen Güter bereitzustellen. Der Nationalkongress beheimatet 32 verschiedene Parteien, von denen die wenigsten ein substantielles Programm aufweisen, und 60 Prozent seiner 594 Mitglieder stehen unter Strafklage. Die Gerichtshöfe sind völlig überlastet; nicht einmal acht Prozent sämtlicher Tötungsdelikte führen zu einer Verurteilung.

Wenn die repräsentativen Institutionen scheitern, können partizipatorische Mechanismen selbstkorrigierend wirken. Und in den letzten Jahren hat Brasilien tatsächlich die bisher grössten Massenproteste erlebt. Allerdings zeigen diese informellen Methoden politischer Teilhabe die Schwierigkeiten auf, die sich bei ihrer Umsetzung in formelle politische Aktionen ergeben. Der Prozess der direkten Demokratie und insbesondere die brasilianische Version der Volksinitiative begünstigen die Elite mehr, als dass sie das Volk stärken.

Anzeichen der Hoffnung

Indessen schimmert Hoffnung auf: Staatsanwälte und Gerichtshöfe haben begonnen, Gerechtigkeit und Verurteilung als Pflicht zu betrachten. In einem Prozess, der anfänglich gegen einen Autowaschbetrieb an der Grenze zu Paraguay angestrengt wurde, wurden Dutzende von oberen Führungskräften des privaten und öffentlichen Sektors zu Hunderten von Jahren Gefängnis verurteilt. Sogar gegen Lula da Silva, Roussefs Vorgänger, ist Strafanzeige erhoben worden. Dieselben Staatsanwälte und Richter gelobten dem Volk, dass sie eine Initiative gegen die Korruption lancieren würden. Mehr als zwei Millionen Bürger und Bürgerinnen haben diese gegenwärtig vom Kongress überwachte Initiative unterstützt.

Auch sind mehrere weitere Initiativen ins Leben gerufen worden, so beispielsweise Transparência Brasil (Transparenz Brasilien) und RAPS (Politisches Aktionsnetzwerk für die Gesellschaft), wobei Letztere von Wirtschaftsführern finanziert wird mit dem Ziel, Jungpolitiker auszubilden.

Tiefergreifende Reformen erforderlich

Während wir diese und viele andere Antikorruptions-Kampagnen begrüssen, sind wir der Meinung, dass noch tiefergreifende Reformen erforderlich sind, um die Lebensbedingungen für die gesamte brasilianische Bevölkerung zu verbessern. Um eine Metapher aus der Welt des Sports beizuziehen: Es genügt nicht, wenn eine Mannschaft mit elf jungen Männern in einem Fussballspiel gegen Deutschland eine Goldmedaille gewinnt – es ist an der Zeit, dass die gesamte Bevölkerung Brasiliens an einem Triathlon teilnimmt. 3,8km Schwimmen erfordert einiges an Technik. Politisch betrachtet bedeutet dies, dass Brasilien seine Institutionen grundlegend überholen muss (politische Reform, Steuerreform usw.). Beim Radfahren über 180km sind Geschwindigkeit und Gleichgewicht von entscheidender Bedeutung. In politischer Hinsicht heisst dies, dass Brasilien seine Negativdynamik rasch umkehren muss. Und zu guter Letzt schafft man einen Marathonlauf nicht ohne den Willen, Schmerzen zu erdulden. Dasselbe trifft auf die politische Situation Brasiliens zu: Ohne schmerzliche Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben, den Pensionskassen für die Staatsbeamten usw. sowie Änderungen, die alle betreffen wie z.B. eine Reform des Arbeitsrechts, kann dies nicht erreicht werden.

Es mag grausam scheinen, eine ganze Nation zu einem Ironman-Rennen aufzurufen, umso mehr, wenn wir die elf Millionen Arbeitslose in Betracht ziehen. Wir glauben jedoch, dass Brasilien dies schaffen kann. Schliesslich lautet eines der berühmtesten Mottos des Landes: Um brasileiro nunca desiste – ein Brasilianer gibt nie auf!

Angélica Rotondaro ist Ständige Dozentin und Geschäftsleiterin des Hubs São Paulo der Universität St.Gallen. Sie hat einen Ph.D. in Organisationswissenschaft und ist Mitgründerin der Plattform Impact Business Latin America (IBLA).

Rolf Rauschenbach erwarb seinen Ph.D in Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen und war an der Universität von São Paulo in Lehre und Forschung tätig. Zurzeit wohnt er in der Schweiz und wirkt als selbständiger Strategieberater.

Bild: Nationalkongress in Brasilia, filipefrazao – Fotolia.com

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