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Meinungen - 29.02.2016 - 00:00 

Haben die US-Latinos die Wahl?

Am entscheidenden Einfluss der Latinos auf die US-Präsidentschaftswahlen zweifelt mittlerweile niemand mehr. Auch 2016 kommt man ohne sie nicht ins Weisse Haus. Von Yvette Sánchez.

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29. Februar 2016. Ted Cruz, Marco Rubio, die Namen sagen es. Die US-Latinos sind nicht nur einflussreiche Wähler, sondern streben nun auch die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten an. Was interessant ist: Die aus Kuba stammenden Familien der beiden republikanischen Senatoren aus Miami und Texas flüchteten nicht etwa vor Fidel Castro, wie die allermeisten kubanischen Immigranten in Florida, sondern vor der Diktatur Fulgencio Batistas.

An der Einwanderungsgeschichte der US-Latinos lassen sich transkulturelle Prozesse der Migration und Diaspora idealtypisch aufzeigen. Im Vergleich zur in Europa momentan so akuten, prekären Lage der Flüchtlinge aus afrikanischen und mittel- bzw. nahöstlichen Krisengebieten, halten die Migrationsströme von Lateinamerika in die USA seit Jahrzehnten an. Bei einem jährlichen Zuwachs von über einer Million, leben mittlerweile insgesamt rund 66 Millionen Latinos in den Vereinigten Staaten, die schätzungsweise 11,5 Millionen ohne Green Card eingerechnet.

1970 waren es noch 7 Millionen. Dieser beeindruckende demographische Umbruch erfordert umso zwingender eine Berücksichtigung der generationalen Abfolge, die Samuel Huntington 2004 in seinem Buchkapitel «The Hispanic Challenge» (in Who are we? 2004) tunlichst, jedoch für einen Sozialwissenschaftler seines Ranges unentschuldbar, ignorierte. Er wollte damit seine These des mangelnden Integrationswillens mexikanischer Immigranten untermauern. Der Sprachgebrauch der zwei bis vier Generationen dauernden Eingliederungsphase folgt dem üblichen Ablauf: Die erste Generation spricht daheim, im Kreis der Familie, nur Spanisch. Auf eine zweisprachige zweite Generation folgt in der dritten und vierten Generation die Tendenz, das Spanische in den Hintergrund zu rücken oder ganz verschwinden zu lassen. Heute sind nur noch 35 Prozent der US-Latinos tatsächlich in ihren Ursprungsländern geboren.

Die grosse Nervosität von 2004, als die Einwanderer aus Lateinamerika erstmals die grösste Minderheit des Landes stellten, wurde zwar populistisch bewirtschaftet, ist aber inzwischen verflogen. Ohne die Grenzprobleme zu lösen, haben ein Gewöhnungsprozess und ein gewisses Bewusstsein darüber eingesetzt, dass zum Beispiel Kalifornien ohne die lateinamerikanischen Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor kaum mehr funktionieren könnte. Das junge Alterssegment der Latinos wird in Zukunft die Vereinigten Staaten vor vielen Problemen der Überalterung bewahren. Grund genug, um sie nicht auszugrenzen, sondern sich um ihre erfolgreiche Integration zu kümmern.

Kontinental heimisch

Parallel wächst auf der Seite der US-Latinos das Selbstvertrauen. Man fühlt sich kontinental heimisch, versucht, den amerikanischen Traum zu leben, und Kulturschock-Szenarien nehmen ab. Die dramatischen Geschehnisse beschränkten sich auf die gefährliche, traumatische Reise durch Zentralamerika und Mexiko und den durch mafiöse Schlepperbanden organisierten und dominierten illegalen Grenzübertritt. Bisher haben über 10'000 Migrantinnen und Migranten beim riskanten Versuch der Überquerung ihr Leben verloren.

Die Massenflucht aus mehreren Ländern Mittelamerikas zwingt Barack Obama zur Krisenbewältigung, das heisst zu Reformen der Einwanderungsgesetze, auch zu substanziellen Investitionen in der mexikanisch-amerikanischen Grenzzone, die aber vom republikanisch dominierten Kongress nicht mitgetragen werden. Über die liberale Einwanderungspolitik des Präsidenten im Alleingang wird dieses Jahr der Supreme Court entscheiden müssen. Eine zentrale Massnahme wäre etwa die Erteilung von Green Cards an 4 bis 5 Millionen (nicht straffällige) Sans Papiers, deren Kinder in den USA geboren sind.

Miami, die «Hauptstadt Lateinamerikas»

Ein ganz anderes Panorama bietet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kontinents, in der Latino-Enklave Miami, die immer wieder als eigentliche Hauptstadt Lateinamerikas betitelt wird. Hier verfügen die Immigranten aus dem Süden mit 70 Prozent über die Mehrheit der Bevölkerung und über die politische, finanzielle und juristische Macht. Im Vergleich zur English-Only-Hochburg Kalifornien pflegt man die Zweisprachigkeit und spricht deutlich mehr Spanisch.

Mit der kubanisch-nordamerikanischen Öffnung gehört auch die äusserst prekäre Bootsflucht über das karibische Meer der Vergangenheit an, ebenso die Dominanz der kubanischen Diaspora in der Stadt. Heute ist Miami divers geworden. Mit den massiven Zahlen von Zuwanderern aus allen sozialen Schichten ganz Lateinamerikas hat sich in den vergangenen paar Jahren die soziale Schere geöffnet: Der Anteil von unter der Armutsgrenze lebenden Latinos ist gestiegen, und in einigen Quartieren hat sich die Sicherheitslage markant verschlechtert. Dennoch präsentiert sich Miami als eine wohlhabende Stadt, als ein Dreh- und Angelpunkt für Transport, Handel, die Medien- und Unterhaltungsindustrie und nach 2002, mit der Initialzündung Art Basel Miami, auch als Kunststadt.

Konsum für 1 Billion Dollar

Kulturell und medial sind die Latinos in den Vereinigten Staaten stark präsent, nicht zuletzt durch rund 50 TV-Sender, 200 Zeitungen und 800 Radiostationen. Die Latinos wissen um ihren Marktwerk – ihr Label verkauft sich bestens. Und sie konsumieren für schätzungsweise 1 Billion Dollar. Für einzelne lateinamerikanische Länder sind die Rimessen ihrer Emigranten im Norden existentiell.

Aus dem Leben in den USA sind populärkulturelle Bereiche, in denen die Latinos besonders erfolgreich sind, nicht mehr wegzudenken: Sport (Ballspiele und Boxen), Küche, Tanz und Musik (890 Millionen Klicks für «Propuesta Indecente» des in den Bronx aufgewachsenen dominikanischen Bachata-Sängers Romeo Santos). Aber auch in Film, Theater, den Bildenden Künsten und in der Literatur etablieren sich die Latinos wirkungsvoll.

An ihrem entscheidenden Einfluss auf Präsidentschaftswahlen zweifelt mittlerweile niemand mehr. Auch 2016 kommt man ohne die Latinos (rund 27 Millionen Wähler, von denen allerdings viele ihr Wahlrecht nicht nutzen) nicht ins Weisse Haus. Laut The Economist («Tu casa es mi casa», 13. März 2015) erreichen jedes Jahr fast eine Million in den USA geborene Latinos das Wahlalter, was letztlich auch die Inhalte beeinflusst. Denn diese Wählerschaft will nicht mehr in erster Linie Immigrationsprobleme behandelt haben, sondern Schulreformen, eine bezahlbare Gesundheitsversorgung und eine Politik, die ihnen hilft, in die Mittelklasse aufzusteigen (The Economist, «How to fire up America», 14. März 2015). Die Latinos wählten immer demokratisch (über 70 Prozent für Bill Clinton oder Barack Obama; Hillary Clinton befindet sich laut MSNBC-Umfragen momentan bei 51 Prozent Latino-Zustimmung). Es wird sich zeigen, ob die Republikaner Terrain gut machen können. Die Bandbreite ihrer Haltungen ist erheblich: Zwischen Donald Trumps Sprüchen über den durch Mexiko zu finanzierenden Mauerbau zur Abhaltung der «Illegalen» und Jeb Bushs Wahlregistrierung als «Hispanic» bewegen sich die beiden «echten» Latinos, Rubio und Cruz.

Yvette Sánchez ist Ordentliche Professorin für Spanische Sprache und Literatur an der Universität St.Gallen und Direktorin des Centro Latinoamericano-Suizo (CLS-HSG).

Bild: destina - fotolia.de

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