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Meinungen - 22.09.2017 - 00:00 

Digitalisierung: Der Wahrheit verpflichtet

Die digitale Welt verändert Leben und Wesen der Menschen. Womöglich wird sie den Zivilisationsprozess in einer Weise prägen, wie dies noch keine Erfindung bisher vermochte. Es liegt an den Universitäten, die künftigen Entscheidungsträger der Gesellschaft zu kritischen und offenen Persönlichkeiten mit Urteilskompetenz zu erziehen. Von Lukas Gschwend und Judith Gamp.

22. September 2017. Der digitale Mensch kommuniziert permanent und ist dabei in bisher ungekanntem Ausmass transparent. Die theoretische Informationsfreiheit ist faktisch jedoch ausgehebelt: Personalisierte Suchergebnisse, die vermeintlich das Beste für den User wollen, sperren diesen de facto in engen Grenzen ein, während er sich immer noch in den Weiten des World Wide Web wähnt. Grund dafür sind Profitinteressen der beteiligten Konzerne. Während etablierte gesellschaftliche Institutionen zumeist auf einem kollektiv vereinbarten Wertefundament basieren, ist das Internet bisher ein wertfreier Raum, in dem allenfalls das Recht des Stärkeren gilt.

Die totale Dimension der Digitalisierung

Die Digitalisierung mobilisiert Massen und verschafft dem Individuum in sozialen Netzwerken Wertschätzung. Damit ist der Grundstein für Big Data gelegt: Daten der Massen werden gesammelt, um damit deren Konsumverhalten zu steuern. Dabei ist der Geltungsanspruch der digitalen Welt total. Total ist jedoch auch das Überwachungspotenzial der Digitalisierung. All unser Tun hinterlässt Spuren und damit Möglichkeiten zur Manipulation: Die Anmeldung bei Facebook, Nutzung von Kunden- und Kreditkarten, E-Banking, internetfähige Haushaltsgeräte, die Nutzung von Standortdiensten.

Dadurch schafft die schöne neue Welt Abhängigkeiten. Wie kaum eine andere Innovation ist sie in totaler Weise auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet und dringt damit tief in das Wesen des Menschen ein. Dies hat psychologische Folgen für die Selbstwahrnehmung, für das Selbst. Digitale Dauerreize können in neuropsychologischer Hinsicht gar zu einer Verkümmerung analoger Wahrnehmens- und Denkfähigkeiten führen, was in empathischer Degeneration und sozialer Beziehungsunfähigkeit resultieren kann.

Daraus ergibt sich eine extreme Verletzbarkeit der digitalen Gesellschaft. Mit kleinem Aufwand kann gigantischer Schaden angerichtet werden. Dadurch entsteht ein Bedürfnis nach staatlichen Schutzmechanismen. Diese können jedoch mit Blick auf die globale Dimension der Digitalisierung nur bedingt wirksam werden.

Universitäten müssen digital aufrüsten

Erfindungen von Telefon, Eisenbahn und Computer waren an Universitäten allenfalls für die Ingenieure eine Herausforderung. Die Digitalisierung jedoch verändert fast alle akademischen Berufsfelder. Damit sind die Universitäten in der Pflicht: Digital Literacy ist eine Grundbedingung, um für den Arbeitsmarkt tauglich zu sein.

Die eigentliche Herausforderung für die Universitäten geht jedoch viel weiter: Es bedarf vor allem umfassender Urteilskompetenz. Die Treiber der Digitalisierung handeln meist ökonomisch motiviert. Wenige grosse Anbieter dominieren den Markt; ihre mächtigen Lobbys wenden sich gegen Regulierungen. Universitätsabsolventen müssen hier Entwicklungen richtig einschätzen und diese auch trotz postfaktischem Wahrheitsverständnis normativ richtig beurteilen können.

Es bedarf dazu einer Ausbildung, die neben Informatikkenntnissen auch ökonomische, juristische sowie sozial- und geisteswissenschaftliche – insbesondere ethische – Kompetenzen vermittelt. Kritische Reflexion darf nicht Technikphilosophen und Kulturkritikern überlassen werden. Manager, Politiker, Ärzte, Geistes- und Naturwissenschaftler, Ingenieure und Juristen müssen Chancen und Risiken der Digitalisierung für ihr Metier und die Gesellschaft adäquat einschätzen können und sich aktiv am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Die digitale Welt verfügt über starke Selbstdefinitions- und Gestaltungskräfte, die ohne bewusste Rückbesinnung des Menschen auf die eigene Freiheit autonome Entscheidungskompetenzen von Individuum und Gesellschaft aufheben werden. Denn mit Social Engineering können Meinungen beeinflusst, Mainstreams geschaffen, Wahlen manipuliert und damit Demokratie und Rechtsstaat empfindlich getroffen werden.

Critical Thinking als digitale Kompetenz

Für eine Universität, die ihre Fundamente im Humanismus und Liberalismus weiss, drängen sich Fragen auf. Wie kann Digitalisierung das Leben der Menschen glücklicher machen, ohne sie von sich selbst zu entfremden? Wieweit kann und soll reguliert werden? Was sind die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung? Wie kann sie die soziale Integration stärken, statt durch Arbeitsplatzabbau soziale Scherkräfte zu verstärken und so Instabilität zu fördern? Welche Kompetenzen muss der Bildungssektor zur Verfügung stellen?

Angesichts der Macht von Konzernen und der Auswirkungen auf den Menschen: Muss die Weltgemeinschaft Grenzen setzen, ähnlich wie dies in der Klimapolitik versucht wird? Ist Digitalisierung ein Katalysator des Zivilisationsprozesses oder geht es vornehmlich um Profitsteigerung? Was bedeuten Menschenwürde und Menschenrechte im digitalen Zeitalter? Wie weit sollen Informationsfreiheit und der Schutz der Persönlichkeit gehen? Braucht es neue verfassungsmässige Grundrechte, die über die bisher rein programmatische digitale Grundrechtscharta der EU hinausführen?

Noch immer sind elementare juristische Fragen nicht eindeutig geklärt: Wieweit richten sich die Grundrechte über ihre Drittwirkung unmittelbar an private und ausländische Unternehmen? Welche haftpflichtrechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus digitalen Produkten und Dienstleistungen? Wann dürfen persönliche Daten von Privaten verwendet werden?

Auch «analoge» Kompetenzen stärken

Den Universitäten sei geraten, bei Ihren Studierenden neben Digital Literacy und kritischer Urteilskompetenz weiterhin oder gar vermehrt auch «analoge» Kompetenzen zu stärken: Kenntnisse, Verständnisformen, Fähigkeiten und Eigenschaften, die für menschliches Denken, Fühlen, Kommunizieren und Verhalten charakteristisch sind. Wenn das Analoge als Referenzgrösse entfällt, definiert sich die digitale Welt selbst.

Daher braucht es Universitäten, die im Sinne einer «universitas» eintreten für eine aufgeklärte Rationalität, die der Wahrheit, der Vielfalt und der Würde des Menschen sowie dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Dazu gehören Werte wie Gerechtigkeit, Augenmass, Verantwortung und Nachhaltigkeit. So ergibt sich ein Mehrwert für die Menschheit, der Investitionen der Universitäten in den technologischen Fortschritt rechtfertigt und zwingend erforderlich macht.

Lukas Gschwend ist ordentlicher Professor für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht sowie Prorektor Studium und Lehre an der Universität St.Gallen (HSG). Judith Gamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Prorektorats Studium und Lehre an der Universität St.Gallen (HSG).

Der Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung am 30. Juli 2017 und in der Ausgabe 9/17 der Zeitschrift Forschung & Lehre.

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