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Meinungen - 25.09.2017 - 00:00 

Muss Deutschland machtbewusster werden?

Die Geschichte hat Deutschland gelehrt, langweilige Aussenpolitik zu machen - nicht grosse, sondern kleine und konsequent multilaterale Politik. Muss Deutschland machtbewusster werden? Ein Kommentar von Christoph Frei.

25. September 2017. Knapp 70 Jahre nach ihrer Gründung stellt die Bundesrepublik nicht nur eine bärenstarke Volkswirtschaft, sondern auch eine der offensten und freiheitlichsten Gesellschaften der Welt - dazu eine stabile Demokratie. Bewusster, gründlicher, nachhaltiger als seine Nachbarn hat sich das Land der eigenen Vergangenheit gestellt. Wie viel schwerer tun sich Briten und Franzosen in dieser Hinsicht, wie problematisch war und ist diesbezüglich auch der Weg der Schweiz?

Felix Germania

Dass die Biographie der Bundesrepublik zur Erfolgsgeschichte werden konnte, verdankt sie nicht nur, aber auch dem glücklichen Umstand eines festgefügten Rahmens in der Aussenpolitik. Auf der einen Seite stand dabei das transatlantische Bündnis - die politische Anbindung an einen Hegemon, der nicht nur verlässlich für Sicherheit sorgte, sondern massgeblich auch dafür bezahlte. Auf der anderen Seite stand Europa als Projekt. Besagtes Projekt verlangte Deutschland zwar ein beträchtliches Mass an Selbstbindung ab, versprach indessen auch viel Gewinn: neue Legitimität, neuen Respekt - und neue Märkte. Der Fall des Eisernen Vorhangs bescherte Deutschland nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch eine Rückkehr zur vollen Souveränität. Aus der Westmacht wurde eine Mittelmacht.

Auf das Ende des Kalten Krieges folgten leichtere Jahre, eine Auszeit im «strategischen Schlaraffenland» (Josef Joffe). Wo am Horizont lauerten noch existentielle Bedrohungen? Das Schlagwort der Friedensdividende kam auf, es meinte die Entlastung des Staatshaushaltes über eine Senkung der Rüstungs- und Verteidigungsausgaben. Den tragfähigen Boden gab einmal mehr die Kontinuität im transatlantischen Bündnis, gab Kontinuität auch in Europa. In diesem anhaltend festgefügten Rahmen hatte die Bundesrepublik ihre neue Bestimmung als Friedensmacht gefunden: geduldig, verlässlich und berechenbar.

Der alte Rahmen bricht weg

Die Geschichte hat Deutschland gelehrt, langweilige Aussenpolitik zu machen - nicht grosse, sondern kleine und konsequent multilaterale Politik. Macht offen einzusetzen, steht vielem entgegen, was sich seit 1945 bewährt hat - und was sich bewährte, wurde Schritt für Schritt verinnerlicht. Tatsache ist aber auch, dass dieser fast prinzipiell freundliche Gestus gerade jene offen-liberale Weltordnung voraussetzt, die heute wegzubrechen droht. Auf ein raueres Umfeld, auf sicherheitspolitische Selbstverantwortung, auf eine «machtvolle» Aussenpolitik im herkömmlichen Sinn sind zumindest die politischen Parteien nicht besser vorbereitet als eine breite Öffentlichkeit.

Freilich gilt es zu relativieren. Dass die Bundesregierung bloss reagiere statt agiere, dass sie orientierungslos bleibe, dass sie blind sei für deutsche Interessen, ist Mythos eher als Realität. Wie sonst liesse sich ihre Enthaltung zur Libyen-Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklären, wie ihre unbeugsame Haltung in der Griechenland-Krise - und wie der bemerkenswerte Mangel an Bereitschaft, Italien im Kontext neuer Flüchtlingswellen zu unterstützen und dadurch wenigstens ein Stück jener Last mitzutragen, deren ganzes Gewicht Deutschland vor zwei Jahren zu spüren bekam?

Niemand braucht Deutschland sagen, was seine Interessen sind. Gültig bleibt aber auch die Feststellung, dass dieses Land seine Rolle in einem stark veränderten Umfeld erst noch finden und bestimmen muss. Die Frage, ob es in die Rolle eines dienenden Führers in Europa erwachsen solle, bleibt mit jenen auszuhandeln, die in den Genuss eben dieser Führung kämen. Wie allerdings deutsche Führung ausgerechnet einer Europäischen Union schmackhaft zu machen wäre, die etwa in der Konfrontation mit Russland jedes Denken in Einflusssphären ablehnt und nach innen tapfer an der Fiktion gleicher Augenhöhe festhält, das wissen die Götter.

Christoph Frei ist HSG-Titularprofessor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen.

Bild: photocase / der Projektor

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