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Meinungen - 26.07.2013 - 00:00 

100 Tage Letta in Italien

Seit 100 Tagen ist Letta im Amt. Kann man nach diesem kurzen Zeitraum bereits Bilanz ziehen? Gewiss, schreibt HSG-Professor Renato Martinoni. Es bestand Gefahr, dass das politische Mandat nur wenige Wochen dauern würde.

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29. Juli 2013. Die Instabilität der Regierungen ist eines der Wesenszüge der italienischen Politik. In Wirklichkeit wird die italienische Politik nicht nur nicht verstanden. Zusätzlich stiftet die mediale Berichterstattung mehr Verwirrung als Klarheit. Letta ist 47 Jahre alt und Mitglied des Partito Democratico: Eine politische Kraft, die vor rund 20 Jahren die wichtigste kommunistische Partei Westeuropas war und später den Weg der Sozialdemokratie geebnet hat.

Eine neue Koalition
Die wesentliche Neuerung nach 20 Jahren des Widerspruchs war die Koalition der Postkommunisten mit der Partei von Berlusconi. Man könnte es fast eine Regierung der «nationalen Einigkeit» nennen. Dies wird durch den Fakt relativiert, dass die Hälfte der Italiener nicht gewählt hat. Und die andere Hälfte sich zwischen denjenigen aufgeteilt hat, die die Regierungsparteien unterstützen; und denjenigen, die für die Protestparteien wie Movimento 5 Stelle eintreten.

Der erste Schritt des neuen Regierungschef war eine Zusammenführung der Minister in einer toskanischen Abtei: Um weit weg von Rom zu diskutieren und eine gemeinsame Arbeitsbasis zu finden. Im Namen der ‘Wachstumsförderung’, wurden die Ziele für die ersten hundert Tage festgelegt: Arbeit durch (steuerliche) Anreize für Firmen schaffen. Jugendliche und über 50-jährige Arbeitslose in Lohn und Brot bringen. Und Reformen durchführen.

Kein Geld für Pasta und Ferien
Gleichwohl ist der Zustand Italiens derzeit dramatisch: Besonders im Süden, gerade für junge Leute. Acht von einhundert Italienern leben in Armut und ein Viertel der Bevölkerung befindet sich in einer unbehaglichen wirtschaftlichen Situation. Man spart sogar an einem der heiligsten Orte für Italiener, dem Essenstisch: In den letzten drei Jahren hat sich der Pastakonsum um zehn Prozent verringert.

Der Vorsitzende des Industrieverbandes warnte: «Wir sind am Rande eines wirtschaftlichen Abgrundes, der uns um fünfzig Jahre zurückwerfen könnte». Zu der Konjunkturkrise gesellt sich eine Strafsteuerbehörde, welche die Entstehung neuer Initiativen erschwert, und das Drama vieler Unternehmen, die Konkurs gehen, da der Staat ihnen gegenüber die eigenen Schulden nicht begleicht.

Aufstände und sozialen Unruhen werden befürchtet. Hinzu kommt die prekäre Lage, die der Zustrom von Flüchtlingen mit sich bringt. Jeden Tag kommen an Italiens über 7000 Kilometer langen Küsten, hunderte, manchmal tausende Flüchtlinge an. Insbesondere auf der Insel Lampedusa, die nur 70 Kilometer weit entfernt ist von Afrika. Nicht alle schaffen es: Berechnungen zufolge sind in den letzten zwanzig Jahren 25`000 Personen im Mittelmeer ertrunken.

Politik und Justiz
Wegen dieser Probleme (die Staatsverschuldung Italiens liegt gleich hinter Griechenland), sollte Italiens Poltik Letta helfen, sein «Wachstumsprogramm» umzusetzen. Aber die Parteien der Antipolitik geben sich damit zufrieden, Antipolitik zu betreiben. Die Regierungsparteien sind mit internen Problemen beschäftigt. Der Partito Democratico arbeitet hart an seiner Modernisierung. Der Popolo delle Libertà ist voll und ganz abhängig von Berlusconi.

In den zwischen Mai und Juni durchgeführten Regional- und Kommunalwahlen hat sich ein Einsturz der Berlusconianer, der Lega Nord, der Antipolitik und ein Sieg von Mitte-Links abgezeichnet. Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es unmöglich ist, Projektionen zu machen. Unterdessen bleibt eine grosse Spannung gegenüber einer «kommunistischen» Justiz, die – wie die Berlusconianer sagen – organisiert wurde, um den unschuldigen Berlusconi anzugreifen, der darüber nachdenkt, seine frühere Partei, Forza Italia, neu zu gründen. Deshalb protestierten auch die berlusconianischen Minister der Regierung Letta auf der Strasse.

Eine «Geister-Regierung»
Man fragt sich, ob dies nicht ein weiteres Zeichen für die Schwäche der italienischen Regierung ist. Im Grunde genommen sind es die Prozesse, in die Berlusconi verwickelt ist, die das Bündnis zwischen seinen Ministern und denen der Partei Lettas fragil machen.

In einem Interview mit einer deutschen Zeitung hat der Komiker Beppe Grillo die aktuelle italienische Regierung als «Geister-Regierung» bezeichnet. Sicherlich ist der Vizepräsident des Senats, Mitglied der Lega Nord, der die aus dem Kongo stammende Ministerin für Integration, Cécile Kyenge, rassistisch mit einem Orang-Utan verglichen hat, kein «Geist».

Viele forderten seinen Rücktritt, aber der Gentleman hat seinen Posten immer noch inne. Gibt es nur schlechte Nachrichten für Enrico Letta? Nein. Die Medien sagen, dass die Lust, anderen zu helfen, wächst: Einer von zehn Italienern ist in einem Freiwilligendienst aktiv. Zumindest ausserhalb der Politik, in der Bürgergesellschaft, gibt es also weiterhin gute Nachrichten aus Italien.

Bild: Photocase / misterQM

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