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Hintergrund - 06.05.2022 - 00:00 

Neutralität auf dem Prüfstand: Die Aussenpolitik der Schweiz und Österreichs in Kriegszeiten

Sowohl für die Schweiz als auch für Österreich ist die Neutralität in militärischen und politischen Konflikten seit langem ein bestimmendes Merkmal ihrer Aussenpolitik. Ein Podiumsgespräch mit Ignazio Cassis und Karoline Edtstadler während des St.Gallen Symposiums an der HSG ging der Frage nach, wie es um die Neutralität in Zeiten des Kriegs in der Ukraine steht.

6. Mai 2022. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 haben beide Länder im Rahmen einer koordinierten europäischen Reaktion Sanktionen gegen den Kreml und Russland beschlossen. Welche Rolle kann die Neutralität in der Aussenpolitik der Länder derzeit spielen? Welche unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen haben die aktuellen Entwicklungen auf die Rolle der beiden Länder in Europa und in der Welt? Cathryn Clüver Ashbrook, Mitglied des Global Public Policy Institute, diskutierte mit Bundespräsident Ignazio Cassis aus der Schweiz und Karoline Edtstadler, Österreichs Bundesministerin für die EU und Verfassung im Bundeskanzleramt.

«Einer für alle, alle für einen»

Bundesrat Ignazio Cassis ging zu Beginn des Podiumsgesprächs auf die Besonderheiten der Neutralität in der Schweiz ein. «Die Neutralitätspolitik ist für die Schweiz ein Instrument des Friedenserhalts. Wie wir derzeit schmerzlich erfahren müssen, sind Wertvorstellungen aber nicht so universal, wie wir es in der westlich geprägten Gesellschaft häufig annehmen.» Der Krieg in der Ukraine fordere die Schweiz, ihre Neutralität neu zu definieren, ohne dabei die Grundwerte der Schweizerischen Gesellschaft zu vernachlässigen. «Bereits im Kindergarten lernen wir in der Schweiz: Einer für alle, alle für einen. In Krisenzeiten müssen wir die Kräfte bündeln und zusammenstehen.» Aus diesem Grund habe die Schweiz auch die Sanktionen gegen den Kreml und Russland übernommen. Ein NATO-Beitritt und die aktive Teilnahme an einem Krieg seien jedoch nicht vereinbar mit der Schweizerischen Neutralität.

«Alle Hebel in Bewegung setzen, um den Krieg zu beenden»

Österreichs Perspektive beleuchtete Karoline Edtstadler, Bundesministerin für die EU und Verfassung im Bundeskanzleramt. Sie plädierte auf dem Podium dafür, alle politischen und diplomatischen Hebel in Bewegung zu setzen, um den Krieg zu beenden. Auch Österreich pflegt in der Aussenpolitik das Prinzip der Neutralität, seit dem EU-Beitritt 1995 wurde diese aber durch neue Verfassungsbestimmungen eingeengt. Edtstadler betonte, dass das politische Instrumentarium in Zeiten eines Aggressionskrieges wie in der Ukraine voll ausgenutzt werden müsse, um den Aggressor in die Schranken zu weisen. Sie bedauerte zugleich sehr, dass die Zivilbevölkerung Russlands mit den Sanktionen nun keine Möglichkeit mehr habe, Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzureichen.

Lisa Yasko, Mitglied des Ukrainischen Parlaments, richtete aus dem Publikum der voll besetzen Aula an der Universität St.Gallen die Frage an Cassis und Edtstadler: «Welche politischen Werkzeuge können Frieden bringen und nachhaltig sichern?» Österreich versuche alles, um Brücken zu bauen und auch die Schweiz nutze ihr politisches Instrumentarium aus, um mit Sanktionen und auf diplomatischen Wegen den Krieg zu beenden, hiess es auf dem Podium. Unbeantwortet blieben am Ende der Diskussion zwei Fragen aus dem Publikum: Wann funktioniert Neutralität nicht? Und kann sich die Schweiz ihre Neutralität nur leisten, weil andere Staaten dies nicht sind?

Plädoyer für mehr Partizipation

An die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Publikums gewandt sagte Ignazio Cassis: «Beteiligt euch an der direkten Demokratie. Nutzt die politischen Instrumente für eine aktive Mitgestaltung unserer Gesellschaft. Oder – wenn ihr mit gar nichts einverstanden seid, macht eine Revolution.» Karoline Edtstadler plädierte ebenso mit Nachdruck für Partizipation in der Demokratie: «Bringt eure Ideen ein und tretet für unsere demokratischen Werte ein.» Freiheit und Frieden seien nicht gegeben, sie müssten durch Dialog und Verhandlung stets aktiv hergestellt werden.

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