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Hintergrund - 08.10.2021 - 00:00 

Studieren ohne berufliche Perspektive: Die ersten Studentinnen an der HSG

Wie erlebten die ersten Studentinnen ihre Zeit an der Handelsakademie St.Gallen, später HSG? Ein Blick in das Universitätsarchiv zeigt, dass viele Hürden zu überwinden waren, obwohl das Frauenstudium in der Schweiz 1898 nicht mehr grundsätzlich in Frage stand. Grösstes Manko zu dieser Zeit: Nach dem Abschluss hatten Absolventinnen kaum berufliche Perspektiven.

Im dritten Jahrgang der 1898 gegründeten Handelsakademie findet sich die erste Studentin: Amalie Meyer stammte aus Trier und begann 1901 zusammen mit 25 männlichen Kommilitonen ihre Ausbildung in St.Gallen. Aus ihren Anmeldeunterlagen geht hervor, dass die 21-jährige Deutsche aber keineswegs ein vollumfängliches kaufmännisches Studium anstrebte. Sie belegte lediglich die «unbedingt nötigen Fächer», um möglichst rasch eine Stelle als Buchhalterin zu finden (Französisch, Englisch, Stenografie und Maschinenschreiben). Nach zwei Semestern verliess sie die Hochschule wieder.

Erschwerter Zugang zu akademischer Bildung

Viele andere junge Frauen schrieben sich wegen der hohen Voraussetzungen gar nicht erst regulär ein. Um sich an der Handelsakademie zu immatrikulieren, mussten sie eine Maturität vorweisen. Die Kantonsschulen waren aber bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts für die Knaben vorgesehen. Mädchen besuchten in der Regel nur die Sekundarschule oder eine Höhere Töchterschule, wo allerdings der Hauswirtschaftsunterricht im Mittelpunkt stand. Amalie Meyer wurde nur zum Studium zugelassen, da sie neben dem Unterricht an der Höheren Mädchenschule in Trier kostspielige Privatstunden in «Buchführung» und «Kaufmännischem Rechnen» erhalten hatte.

Etwas einfacher wurde es, als die Handelsakademie 1902 einen Vorkurs einführte. Damit konnten Studieninteressierte in kurzer Zeit potenzielle Bildungslücken schliessen und sich auch ohne Maturität für die Hochschule qualifizieren. Von diesem Angebot profitierte Henriette Zoller aus Bukarest. Die damals 16-jährige war zwar in der Töchterschule «stets die 1. ihrer Klasse» gewesen und sprach bereits vier Sprachen, aber aufgrund ihres Alters und des fehlenden Maturitätszeugnisses konnte sie erst nach dem Vorkurs studieren. Henriette Zoller absolvierte im Sommer 1905 als erste Frau das kaufmännische Diplom an der HSG.

Studieren ohne berufliche Perspektive: Die ersten Studentinnen an der HSGEinzelne Studentinnen unter den Studierenden, Aulaversammlung 1915 (HSGH 022/001627)

Vorurteile und mangelnde Perspektiven

Doch auch nach der Einführung des Vorkurses verzichteten die meisten Frauen darauf, sich zu immatrikulieren und nahmen lediglich als Hospitantinnen oder Hörerinnen an einzelnen Kursen teil. Besonders beliebt waren Literaturvorlesungen und Sprachkurse. Der Philosophieprofessor Willi Nef (1911-1947) betrachtete die ersten Studentinnen daher primär als ungebetene Gäste, die «in den Hörsälen, Seminarien und Korridoren herumscharwenzelten und herumflirteten». Die meisten von ihnen würden den Unterricht an der Handelshochschule lediglich nutzen, um die Zeit bis zur Vermählung mit günstigem Sprachunterricht totzuschlagen und dabei ihre männlichen Kommilitonen von ernsthaften Studien ablenken.

Zumindest was die beruflichen Perspektiven der Studentinnen anging, lag Willi Nef nicht ganz falsch. Eine Umfrage unter den Absolventinnen im Jahr 1928 konstatierte, dass von den 23 Frauen, die bis dahin ein Diplom der Handelsakademie erworben hatten, die meisten gar keine berufliche Tätigkeit aufgenommen oder nach der Hochzeit wieder eingestellt hatten. Eine Studentin schrieb dazu: «Die meisten Mädchen haben bei ihrem Eintritt in die Handelshochschule kein festes Ziel. Das kaufmännische Studium bietet Ihnen aber Gelegenheit, jederzeit als kaufmännische Angestellte ein Pöstchen zu finden.» Derartige Positionen als Sekretärinnen oder Buchhalterinnen konnten jedoch tatsächlich nur unverheiratete Frauen annehmen und das Einkommen reichte selten für eine selbstständige Existenz. Sie waren also auch für Frauen mit Hochschulabschluss bestenfalls eine Überbrückung bis zur Heirat.

Erste Absolventin der HSG schliesst ihr Studium 1905 ab

In dieser Lage fand sich auch Elisabeth («Elsa») Rannacher, die erste Absolventin der HSG überhaupt, wieder. Sie schloss ihr Studium im März 1905 mit einem Sprachendiplom und hervorragenden Noten ab. In den folgenden Jahren konnte sie einige Zeit im St.Galler Stickereibetrieb ihres Vaters mitarbeiten, bevor sie die Stadt verliess, um mit ihrem Ehemann, einem gefragten Glasmaler, zusammen nach Boswil im Aargau zu ziehen. Elsa nutzte ihre kaufmännischen Kenntnisse, um neben der Haushaltsführung für die sechsköpfige Familie auch die Buchhaltung und Korrespondenz ihres Mannes zu erledigen – natürlich unbezahlt.

Von den 23 Absolventinnen vor 1928 gelang es lediglich einer (nicht namentlich genannten) Frau, eine leitende Position in einem kaufmännischen Unternehmen zu erlangen. Die Autorin der Absolventinnenbefragung schlussfolgert daher: «Vom zielbewussten Studium hält [die Frauen] oft auch der Gedanke ab, dass die höheren Posten in Handel und Industrie durch Männer besetzt werden und der Frau nicht, oder doch nur schwer zugänglich sind.»

Mangelnde Gleichstellung, gesellschaftliche Konventionen und Berufsverbote für verheiratete Frauen hielten daher viele Studentinnen davon ab, ihren erlernten Beruf nach dem Studium tatsächlich auszuüben.

Studieren ohne berufliche Perspektive: Die ersten Studentinnen an der HSG
Die erste Absolventin Elisabeth Rannacher und ihre Kinder, 1922 (Foto: Rebekka Nüscheler)

Text: Pia Regli, Janett Seewer, Universitätsarchiv

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