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Hintergrund - 20.10.2021 - 00:00 

«Was man sieht, kann man auch sein»

Eine Diskussion an der HSG zeigte neue Perspektiven auf Gender Bias, Diskriminierung und Sexismus in der Wissenschaft am Beispiel des Dokufilms «Picture a Scientist». Fachleute und Publikum besprachen, wie sich der Wissenschaftsbetrieb zu einer geschlechtergerechten Umgebung entwickeln kann.

20. Oktober 2021. Am 19. Oktober 2021 luden Forschung & Faculty, Chancengleichheit & Diversität sowie der akademische Mittelbau der Universität St.Gallen zu einer Diskussion über Geschlechterungleichheit in der Wissenschaft. Nach der Vorführung des US-amerikanischen Dokumentarfilms «Picture a Scientist» diskutierte Prof. Dr. Julia Nentwich mit Prof. Dr. Thomas Zellweger, Prorektor Forschung und Faculty, und Dr. Verena Witzig, Fachexpertin für Chancengleichheit und Diversität, wie die Herausforderungen Gender Bias, Diskriminierung und Sexismus aktiv bekämpft werden können.

Die Wissenschaft impliziert, sie sei objektiv. Wenn die Leistung stimmt, kann jede und jeder alles erreichen. Dass dies nicht der Fall ist und vielen Frauen Steine in den Weg gelegt werden, beweist der Dokumentarfilm «Picture a Scientist» aus dem Jahr 2020 eindrücklich. Aufgrund ihres Geschlechts erleben die drei porträtierten Wissenschaftlerinnen Diskriminierung und Übergriffe. «Ich wollte nur Wissenschaftlerin sein. Wir wollten Wissenschaft betreiben. Wir wollten keine Störenfriede sein», sagt die Biologieprofessorin Nancy Hopkins im Film.

Je höher der Elfenbeinturm, desto weisser und männlicher

Eine Studie der US-amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften belegt, dass rund die Hälfte der US-Wissenschaftlerinnen in ihrer Laufbahn schon einmal belästigt wurden. Sexuelle Übergriffe und eine frauenfeindliche Arbeitskultur sind verantwortlich, dass viele Frauen ihre wissenschaftliche Karriere aufgeben. Die Dynamik zwischen Studentinnen und ihren Mentoren ist von Abhängigkeit und Macht geprägt. «Meine Zukunft lag in seinen Händen», sagt Jane Willenbring, Geologin und Professorin an der Stanford University. Für Jane Willenbring entwickelte sich eine Forschungsexpedition in die Antarktis – allein mit drei Männern – zum Albtraum: Als Masterstudentin wurde sie Opfer eines erniedrigenden Mobbings durch ihren Betreuer und Leiter der Mission. Sie habe es hingenommen, weil sie um ihre Karriere fürchtete. Erst 17 Jahre später hat die Wissenschaftlerin eine Beschwerde bei der Universität eingereicht.

Die Spitze des Eisbergs

Neben schwerwiegenden sexuellen Belästigungen, Nötigungen und Beleidigungen, die die Spitze des Eisbergs bilden, ist die Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft meist systematisch, oft unsichtbar und deshalb schwer fassbar: Frauen werden in Meetings ignoriert, subtil ausgegrenzt oder es fallen obszöne Bemerkungen. «Picture a Scientist» zeigt eindrücklich auf, wie sehr auch solche vermeintlichen Kleinigkeiten die Forscherinnen zermürben. Diese subtilere Diskriminierung könne langfristig die gleichen Folgen haben wie ein einzelnes traumatisches Erlebnis, erklärt eine Psychologin im Film.

Fiktionale Figuren als Vorbilder

Raychelle Burks, Professorin für Chemie und Wissenschaftskommunikatorin, wird als Woman of Color gleich mehrfach diskriminiert. «Du versuchst dich dem Bild anzupassen, das sie von dir haben. Doch nicht mal dann akzeptieren sie dich. Du gewöhnst dich daran, unterschätzt zu werden. Du gewöhnst dich daran, unsichtbar zu sein», sagt die Chemikerin Burks sichtlich erschüttert. Als Vorbilder hätten ihr fiktionale Figuren gedient, da sie nirgends eine Woman of Color als Wissenschaftlerin gesehen hat. Burks betont, wie wichtig Repräsentation und Vorbilder für mehr Diversität in der Wissenschaft sind: «Was man sieht, kann man auch sein.»

Bloss keine Szene machen

Im Film fällt auf, dass sich viele betroffene Frauen erst nicht wehren und versuchen, die Situation zu akzeptieren und sich nichts anmerken lassen. «Alle Menschen, die eine Szene machen, fliegen aus der Wissenschaft», heisst es im Film. Die Frauen wollen nicht auffallen und fürchten Konsequenzen: Die Angst um die berufliche Zukunft oder die Angst, als Hysterikerin oder gar Lügnerin abgestempelt zu werden, lassen die Frauen oft verstummen. Die wissenschaftliche Datenlage zur Diskriminierung von Frauen ist inzwischen so eindeutig, dass man nicht auf persönliches Erleben zurückgreifen muss. Die Zeit, zu sagen: «Ich sehe es nirgendwo, also passiert es nicht», ist vorbei. Trotzdem ist es noch immer eine Herausforderung, Diskriminierungen anzusprechen und dagegen anzukämpfen.

Einen Diskurs der Empörung schaffen

In der anschliessenden Podiumsdiskussion stellt Professorin Julia Nentwich fest: «Wir haben keinen Diskurs, empört zu sein». Nancy Hopkins drückt es im Film so aus: «Wenn ich mich beschwere, bin ich das Problem.» Dr. Verena Witzig sieht im Film die Verquickung aus maskuliner Kultur und Abhängigkeitsverhältnissen im Wissenschaftsbetrieb. Sie betont, dass es wichtig ist, Hilfe zu suchen, wenn man von Diskriminierung betroffen ist.

An der Universität St.Gallen können sich Betroffene an die Fachstelle Diversity & Inclusion wenden. Daneben gibt es eine psychologische Beratungsstelle und für schwerwiegendere Fälle ist die Ombudsstelle der Universität verantwortlich. Doch wie werden auch die männlichen Kollegen erreicht? Männer müssen Verbündete sein, wenn Frauen diskriminiert werden. HSG-Prorektor Thomas Zellweger betont, es sei wichtig, den Diskurs zu suchen, zum Beispiel Workshops durchzuführen, um die Vorurteile offenzulegen und Studien vorzulegen.

Geschlechtervorurteile sind oft unbewusst

Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion sind sich einig, dass Diskriminierung wie an anderen Hochschulen auch an der HSG auftritt. Geschlechtervorurteile, sogenannte Gender Bias, sind institutionell verankert. Menschen mit den besten Absichten würden zu diesen Vorurteilen neigen, da viele Vorurteile unbewusst sind. Zum Schluss hebt Professorin Julia Nentwich hervor, wie wichtig es sei, mit anderen zu reden und sich zu verbünden, wenn man von Diskriminierung und Übergriffen betroffen ist. Oder wie es im Film heisst: Eine Kultur der Veränderung statt einer Kultur des Schweigens zu pflegen.

Text: Sabrina Rohner

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