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Forschung - 20.06.2012 - 00:00 

Mittelmeerraum unter der Lupe

Soziologen der HSG und aus Universitäten des Méditerranée untersuchen Anfang Juli die gesellschaftliche Lage in der Mittelmeerregion. Ein Ausblick auf die Forschungsreise der Fondation Pierre Bourdieu nach Griechenland.

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20. Juni 2012. Vom 29. Juni bis 1. Juli 2012 richtet das Seminar für Soziologie zusammen mit der Fondation Pierre Bourdieu erstmals ein internationales Forschungsseminar auf der griechischen Insel Tinos aus. Angesichts der aktuellen Situation in Griechenland scheint der Ort denkbar ungünstig, hinsichtlich des gewählten Forschungsthemas jedoch geradezu exemplarisch.

In Tinos diskutieren rund 20 Soziologen fast aller Mittelmeer-Anrainerstaaten vier Tage über soziale Fragen mit politischem Sprengstoff. Es geht um den Zusammenhang von wirtschaftlicher Lage, Bildungssystem und Arbeitsmarkt im Mittelmeerraum. Im Mittelpunkt steht die Zukunft arbeitsloser junger Menschen, die hoch qualifiziert und mit viel schulischem Kapital ausgestattet sind.

Verlorene junge Generation
Sei es in Spanien, Portugal oder Griechenland, oder in den nordafrikanischen Staaten, ja auch in Frankreich oder Italien: Überall bietet sich in den Mittelmeer-Ländern das Bild einer verlorenen jungen Generation, deren mit ihren hohen Bildungsinvestitionen verbundene Hoffnungen auf entsprechende Lebenschancen – beruflich wie privat, einkommens- wie statusmässig – enttäuscht werden.

Deutlich besser qualifiziert als die Elterngeneration hat ein Grossteil der junge Leute aus Spanien, Griechenland, Tunesien oder Algerien kaum eine Chance, in absehbarer Zukunft auch nur annähernd vergleichbare Einkommens- und Lebensverhältnisse zu erlangen. Im soziologischen Sprachgebrauch kann hier von einer «manifesten gesellschaftlichen Reproduktionskrise» gesprochen werden. Diese betrifft nicht nur junge Menschen ohne Arbeit, sondern auch deren Familien, die in die Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation Sorge, Energie und Geld, aber auch Hoffnungen auf ein besseres Leben investier(t)en.

Soziologie als «Krisenwissenschaft»
In Griechenland ist die Soziologie als «Krisenwissenschaft» demnach gerade am richtigen Ort, inmitten des gesellschaftlichen Laboratoriums, in dem auch mit Folgen weit über den betroffenen geografischen Raum hinaus experimentiert wird.

Während der Konferenz präsentieren die Soziologen Länderberichte mit thematisch einschlägigen Daten zur aktuellen Situation in ihrer Heimat. Als «ethnographische Informanten» beleuchten sie die nur schwer zu überschauende Lage in Ägypten, Italien oder Portugal. Ziel wird sein, mittels eines kollektiven Reflexionsprozesses zu einer Diagnose dieser länderübergreifenden gesellschaftlichen Krise zu gelangen und die Ergebnisse in einem gemeinsamen Text zu veröffentlichen.

Forschungswerkstatt in prekärer Umgebung
Die Forschungsreise der St.Galler Soziologen Franz Schultheis, Michael Gemperle und Patricia Holder ist angesichts der Situation in Griechenland selbst prekär. In welche Richtung sich das Land in naher Zukunft entwickeln wird, ist angesichts der vorherrschenden Widersprüche kaum abschätzbar.

Auch das gewählte Format der Forschungswerkstatt, das sich deutlich von der gängigen Gattung des akademischen Kolloquiums abhebt, ist mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Und so passen denn auch Inhalt und Form des Tinos-Seminars gut zusammen. Die zweite Depesche dazu folgt Ende Juni aus Athen, wo die St.Galler Soziologen vor der Überfahrt nach Tinos Interviews mit der Bevölkerung führen werden.  

Bild: Photocase/ Tangent

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