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Forschung - 04.07.2012 - 00:00 

Soziologen analysieren Méditerranée

Wie ist die soziale Lage in den Mittelmeerländern? Dieser Frage gingen rund 20 Soziologen aus 12 Ländern des Méditerranée und aus St.Gallen auf der griechischen Insel Tinos nach. Ein Resümee der Forschungswerkstatt.

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5. Juli 2012. Die Sitzungen des Tinos-Seminars der Fondation Bourdieu waren fordernd. Es wurde in englischer und französischer Sprache kommuniziert, manchmal auch mit Händen und Füssen, meist bis spät am Abend. In Kurzreferaten schilderten die Teilnehmer die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Situation ihres Landes. Sie präsentierten statistische Indikatoren, die historische Entwicklung hin zum «Status quo» und skizzierten eine soziologische Diagnose ihrer Gegenwartsgesellschaft.

Die griechischen Kollegen machten den Anfang. Die drei HSG-Soziologen Patricia Holder, Michael Gemperle und Franz Schultheis ergänzten ihre Perspektive mit einem Resümee zuvor in Athen geführter Interviews. Es folgten Beiträge aus Tunesien, Spanien, Ägypten, Algerien, Frankreich, Italien, Portugal, Libyen und der Türkei.

Begleitet wurden die Beiträge von Diskussionen um sich wiederholende Muster, kulturelle Partikularitäten und sozioökonomische Eigenheiten des Mittelmeerraumes – etwa die grosse Bedeutung der Familie als Wirtschafts- und Solidargemeinschaft, aber auch das Ausmass von Phänomenen wie Klientelismus und Nepotismus.

Vielschichtige Reproduktionskrise
Parallelen kamen zu Tage bei Themen wie Geschlechterbeziehungen und den oft traditionalistisch anmutenden Rollenzuschreibungen, insbesondere in den nordafrikanischen Ländern. Alle Mittelmeer-Kulturen messen dem «guten Namen» der Familie hohe Bedeutung zu: Reputation als symbolisches Kapital.

Das Thema «Staat» stellte bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Krisen im Mittelmeerraum ein Kernstück dar. Oft ging es um kolonialistisch geprägte, staatliche Strukturen mit wenig entwickelten Formen «bürokratischer Rationalität». Die Rede von einem «Sozialstaat» gerinnt hier schnell zum Anachronismus. Es ist die «welfare family» und nicht der «welfare state», die in diesem Raum auch heute wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen scheint. Diskutiert wurde anhand konkreter Beispiele auch die Frage, ob und wie sich Kulturen im Mittelmeerraum überhaupt soziologisch vergleichen lassen.

Fazit: Die Forschungshypothese einer tiefgehenden «Reproduktionskrise» im Mittelmeerraum griff. Sie erwies sich aber als wesentlich vielschichtiger als zunächst angenommen. «Wir haben es mit einer länderübergreifenden sozialen Frage zu tun, der kollektiven Enttäuschung einer ganzen Generation», sagt Franz Schultheis.

Kollektive Enttäuschung
Die Jugend in den Mittelmeerländern ist gut (aus-)gebildet, kritisch-reflexiv, politisch aktiv, zivilgesellschaftlich engagiert und verlangt nun mit Nachdruck ihren Platz in der Gesellschaft. Ein explosives Gemisch, zumal der mediterrane Kapitalismus zurzeit eine Annäherung an den sich durch weniger Beschäftigungsschutz kennzeichnenden angelsächsischen Kapitalismus erfährt und man sich vor geschlossenen Türen wiederfindet.

Die Krise durch die Inflation der Bildungstitel vermischt sich hier mit einem erheblichen materiellen Abstieg und einem Schwinden der Perspektiven. Daran scheinen nicht allein die Jungen, sondern auch ihre Eltern zu leiden. Diese haben viel in die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der kommenden Generation investiert. Sie werden zwischen Flucht in die Migration, aber auch in die kulturelle Entwurzelung, und Formen der Selbstbehauptung und des Widerstandes wählen müssen.

Der Mittelmeerraum wird Soziologen in den kommenden Jahren weiter beschäftigen: Ein Tinos-Seminar der Fondation Bourdieu und des St.Galler Seminars für Soziologie für 2014 ist bereits in Planung. 

Bild: Photocase / Andre 25

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