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Meinungen - 25.10.2023 - 08:43 

HSG-Politologe: «Die Schweizer Politik wird die wichtigen Probleme weiterhin nicht lösen»

Was bedeuten die nationalen Wahlen 2023 für die politische Kultur des Landes? Patrick Emmenegger, HSG-Professor für Politikwissenschaft, spricht im Interview über die zunehmende Polarisierung und damit verbundene Probleme.
Quelle: HSG Newsroom
Patrick Emmenegger, welche zentralen Erkenntnisse ziehen Sie aus den nationalen Wahlen?

Der Stadt-Land-Graben wurde weiter zementiert – die Städte sind rot, das Land grün. Das ist zwar keine Überraschung, doch diese nun noch grösser werdende Kluft zeigt, dass die politische Polarisierung voll in der Schweiz angekommen ist. Der Wahlsonntag hat die Kräfte an den rechten und linken Enden des politischen Spektrums gestärkt, die gemässigten Parteien Die Mitte, FDP, GLP und EVP verloren insgesamt. Die Folgen sind ein gegenseitiges Misstrauen der verschiedenen politischen und demografischen Gruppen und damit verbunden auch Kommunikationsprobleme. Die linke Nationalrätin vom Land und der rechte Nationalrat aus der Stadt werden zur aussterbenden Art. Politiker:innen, die den Kompromiss suchen statt Forderungen stellen, die Brücken zwischen den Welten bauen können, werden seltener. In den Polparteien SP und SVP gibt es kaum mehr gemässigte Vertreter:innen. Die Problemlösungskompetenz der Schweizer Politik nimmt dadurch sicher nicht zu. Symptomatisch war der Wahlkampf, in dem die Diskussionen kaum über Schlagworte hinausgingen. 

Können Sie das ausführen?

Zwei Beispiele: Die SVP will eine härtere Migrationspolitik, die SP will die steigenden Kosten für die Bevölkerung bremsen. Das waren die Hauptaussagen der beiden Parteien. Keine hat aber wirkliche Lösungen präsentiert, wie das konkret umgesetzt werden soll. Andere zentrale Herausforderungen der Schweiz wurden nicht ernsthaft diskutiert. Dazu zähle ich beispielsweise den Klimawandel und damit verbunden den Aufbau einer Versorgung mit nachhaltigen Energien, die aus dem Ruder laufenden Kosten der Sozialversicherungen oder die Frage, ob die Neutralität der Schweiz in der aktuellen Bedrohungslage mit Russland noch zeitgemäss ist. Und natürlich das Verhältnis der Schweiz zur EU, ein Dossier, in dem seit Jahren keine Fortschritte zu verzeichnen sind. 

Die Schweiz beruft sich gerne auf den Kompromiss, der den Kern ihrer politischen Kultur darstelle. Ist das Vergangenheit?

Zuerst muss man dazu sagen, dass die Konkordanz eigentlich nur aus Sachzwängen eingeführt wurde. Der Schweizer Bundesstaat war in seinen Anfängen ein Einparteiensystem, das von der liberal-radikalen Bewegung, der Vorgängerin der heutigen FDP, total dominiert wurde. Nun ist es aber so, dass man in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, den zwei Parlamentskammern und dem starken Föderalismus viele politische Prozesse blockieren kann. Es war und ist aus Sicht der Regierenden darum sinnvoller, Minderheiten ins System zu integrieren. Tatsächlich wird es aber in einer polarisierten Politlandschaft immer schwieriger, Kompromisse zu finden. Früher suchten die gemässigten Parteien einen Kompromiss und machten auf dessen Basis Angebote an die Randparteien, um diese einzubinden. Aber eben, die gemässigten Parteien haben zusammengezählt einmal mehr Sitze verloren, was das Finden tragfähiger Kompromisse erschwert. Ausserdem hat die Mitte-Partei mit einem stärker auf Profilierung und Polarisierung ausgerichteten Wahlkampf gepunktet. Die FDP hingegen gab sich zahm und hat Verluste gemacht. Die FDP wird von der Mitte-Partei lernen und dürfte in Zukunft ebenfalls stärker auf Abgrenzung setzen. 

Was bedeuten die neuen Kräfteverhältnisse nun für die Realpolitik?

Auch wenn die SVP die Gewinnerin der Wahlen ist, kann sie im Parlament nicht einfach durchregieren. Einerseits ist die FDP für sie kein verlässlicher Partner, da die beiden Parteien in vielen Fragen andere Meinungen vertreten. Das Rot-Grüne Lager bleibt ebenfalls stark. Ausserdem brauchen beide Seiten weiterhin die gemässigte Mitte für Mehrheiten, obwohl diese einmal mehr Sitzanteile verloren hat. Am heutigen Modus der Schweizer Politik wird sich also nicht viel ändern, das System bleibt anfällig für Blockaden. Ganz grundsätzlich arbeitet die Schweizer Politik in erster Linie reaktiv und bearbeitet Probleme punktuell. Vorausschauende Politikgestaltung bleibt Mangelware. Hinzu kommt, dass der Bundesrat in vielen Fragen jeglichen Leadership vermissen lässt und teilweise dysfunktional wirkt. Aber natürlich muss sich die Politik immer wieder äusseren Entwicklungen anpassen. Darum könnten auch neue Dynamiken und damit politische Bündnisse entstehen, die heute noch nicht absehbar sind. 
 

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