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Forschung - 01.12.2021 - 00:00 

Vorgehen der EU bei Energiefragen kann gefährlich werden für die Schweiz

Philipp Thaler, Senior Research Fellow für Energy Governance, hat über die Energiebeziehungen zwischen der Schweiz und der EU reflektiert. In einem Interview mit "energate" sagt er, die EU folge mit ihrem Beharren auf einem Rahmenabkommen einer internen Logik. Damit es auch in Stromfragen zu einer Einigung komme, müsse sich vor allem die Schweiz schnell bewegen.

1. Dezember 2021.

energate: Herr Thaler, die Schweiz und die EU wollen bis Januar eine Roadmap zur Klärung der Streitfragen erarbeiten. Allerdings hält der Vizepräsident der EU-Kommission an einem Rahmenabkommen fest, wie er in einem Interview sagte. Es wird also keine gesonderten Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in Stromfragen geben. Auch sonst hält er an der Haltung Brüssels fest. Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass ein Rahmenabkommen so zustande kommt?

Thaler: Die Aussagen des Vizepräsidenten zeigen einmal mehr: Seit dem Brexit-Schock agiert die EU-Kommission in Bezug auf Drittstaaten konsequenter. Nach aussen wirkt das hart und unerbittlich. Nach innen folgt dies aber der nüchternen Logik, Chancengleichheit im Binnenmarkt zu wahren und gleichzeitig der politischen Krise entgegenzuwirken. Die EU-Kommission ringt zu ähnlichen Fragen nach wie vor mit Grossbritannien, aber auch intern mit Polen und Ungarn. Die Signalwirkung, dass nur jene die Vorteile des Binnenmarktes nutzen können, die sich dessen Regeln unterwerfen, ist ihr stärkstes Pfand – und ein Entgegenkommen seitens EU darum unwahrscheinlich. Für ein Rahmenabkommen wird sich in dieser Konstellation tatsächlich vor allem die Schweiz bewegen müssen. Positiv ist, dass hierzulande die Diskussion sachlicher wird. Ob es für eine Einigung reicht, ist schwierig zu sagen.

energate: Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen wurde die Schweiz von der europäischen Kooperationsplattform der Energieregulierungsbehörden (Acer) ausgeschlossen und erstmals seit dessen Gründung 1998 nicht mehr an das sogenannte Florenz-Forum eingeladen. Haben diese Konsequenzen sich schon auf die Zusammenarbeit mit Europa in der Stromversorgung ausgewirkt?

Thaler: Für die Kooperation im Strombereich ist der Ausschluss aus dem Florenz-Forum bedauerlich, aber nicht entscheidend. Ebenso ist das Ende des Beobachterstatus der Schweizer ElCom bei Acer verkraftbar. Beide Ausschlüsse sind eher symbolisch und politisch zu betrachten. In diesem Zusammenhang erkennt man aber ein neues Vorgehen der EU, wonach sie nicht mehr in erster Linie im Interesse der Stromversorgung und der Märkte entscheidet, sondern eben politisch. Diese Vorgehensweise lässt Ungutes erahnen und kann gefährlich werden für die Schweiz. Momentan ist die grösste Sorge aus Sicht der Schweiz, dass die EU-Kommission sie als Drittland behandelt. Tatsächlich ist die Schweiz im Gegensatz zu anderen Drittstaaten physisch zentral in das europäische Stromnetz integriert. Dass diese infrastrukturelle Sonderstellung sich im Status der Zusammenarbeit widerspiegelt, sieht sie zunehmend in Frage gestellt.

energate: Welche weiteren Konsequenzen drohen, wenn die Schweiz kein Rahmenabkommen beschliesst, beziehungsweise gar nicht erst ernsthaftes Interesse daran zeigt?

Thaler: Die EU wird ihren Weg gehen und, unter den gegenwärtigen und sich abzeichnenden politischen Rahmenbedingungen, ihre Haltung durchziehen. Sie könnte die Schweiz dadurch vielleicht ungewollt, aber indirekt schwächen. Die 70-Prozent-Regel zeigt das: Die EU erlässt neue Vorgaben zu grenzüberschreitendem Stromhandel und denkt dabei verständlicherweise an die Vorteile ihrer Mitglieder. Um die Regel einzuhalten, könnten Nachbarländer aber Stromlieferungen in die Schweiz reduzieren, was vor allem im Winter die hiesige Versorgungssicherheit gefährdet. Solange die Schweiz also physisch eingebunden ist, regulatorisch aber nicht, wird das immer zu Problemen führen.

energate: Welche weiteren Massnahmen der EU könnten der Schweiz wehtun?

Thaler: Wichtig wird sein, wie die Schweiz in die Ausgleichsenergieplattformen Terre, Mari und Picasso eingebunden ist. So hat Swissgrid die Terre-Plattform für tertiäre Regelenergie mit aufgebaut – was für ein Drittland einzigartig ist und die bisherige Sonderrolle der Schweiz belegt. Die Plattform ist seit über einem Jahr aktiv und die Schweiz bildet darin einen gemeinsamen Markt mit Italien, Frankreich, Spanien, und Portugal für den grenzüberschreitenden Austausch von tertiärer Regelenergie. Allerdings hat die EU-Kommission die anderen Mitglieder aufgefordert, die Schweiz auch davon auszuschliessen, woraufhin Swissgrid bekanntermassen Klage einreichte. Für eine Teilnahme an Mari und Picasso lässt dies nichts Gutes erahnen. Diese Ausschlüsse hätten Auswirkungen auf die hiesige Netzstabilität, die dann durch weniger effiziente Prozesse gewährleistet werden müsste.

energate: Verschiedene politische Akteure in der Schweiz haben seit dem Abbruch der Verhandlungen eigene Vorschläge für einen Weg ohne Rahmenabkommen geäussert. Gibt es diesen Weg?

Thaler: Es ist höchst unsicher, dass einseitige Annäherungsversuche abseits der gängigen Kanäle von Erfolg gekrönt sind. Eigentlich braucht die Schweiz ohnehin zuerst eine allgemeine Debatte, wie man sich zur EU positionieren will. Sie muss eine Antwort darauf finden, ob eine politische Autonomie umsetzbar ist und was sie kostet. Tatsächlich kommt es langsam zu solchen Diskussionen. Das ist positiv. Alle wünschen sich im Grunde eine Einigung, weil sie die Energiewende so viel einfacher macht. Aber es ist eben so, dass die Debatte einen viel grösseren Hintergrund hat, der manche Akteure dazu zwingt, grundsätzliche politische Positionen zu überdenken. Sie müssen gewichtige Opfer erbringen.

energate: Wer ist besonders gefordert?

Thaler: Politik wird heute in vielen Bereichen wieder so gedacht, dass Staaten oder internationale Organisationen wie die EU eine starke Lenkungsfunktion einzunehmen haben. Das steht selbstredend diametral zum neoliberalen Ansatz der 1990er-Jahre allgemein und teilweise auch zum politischen Ansatz des Freisinns. Strom könnte in dieser Hinsicht nur ein Vorgeschmack sein für andere Bereiche, in denen die EU ebenfalls mehr regulieren wird. Nehmen wir beispielsweise das Thema Green Finance: Die EU wird in Kürze entscheiden, welche Voraussetzungen eine grüne Investition erfüllen muss. An der Vorlage haben sich bereits China, Russland und die USA orientiert. Es scheint, als entstehe ein internationaler Standard. Dem wird sich die Schweiz nicht entziehen können.

Die Fragen stellte Yves Ballinarif. Das Interview wurde erstmals unter www.energate-messenger.ch publiziert.

Bild: Unsplash / Riccardo Annandale

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