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Meinungen - 02.07.2014 - 00:00 

Gemischte Gefühle

Vor der WM 2014 herrschte eine grosse Anspannung in der brasilianischen Bevölkerung. Sobald die Spiele angepfiffen waren, zeigten sich viele aber doch begeistert. Marina Saad ist eine von ihnen. Hier schildert die brasilianische HSG-Austauschstudentin ihre Eindrücke.

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2. Juli 2014. Als es zum ersten Mal hiess, die Fussballweltmeisterschaft würde 2014 in Brasilien stattfinden, war das ganze Land begeistert. Brasilien ist das Land des Fussballs, und die Aussicht auf ein derartiges Ereignis war für alle Brasilianer eine grosse Überraschung und ein Grund zum Feiern.

Begeisterung weicht der Verstimmung

Als wir realisierten, was die Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft alles erforderte, veränderte sich die Stimmung im Land. Die Menge an öffentlichen Geldern, die ausgegeben würden, sowie die Zeit, die dem Land für diese Vorbereitungen verblieb, waren zwei der Hauptfaktoren, welche die Stimmung der Menschen von Begeisterung auf Verstimmung umschlagen liessen.

Die Menschen gingen auf die Strasse, um ihrer Empörung über die unverhältnismässigen Ausgaben Ausdruck zu verleihen. Brasilien ist nach wie vor ein unterentwickeltes Land, und unsere öffentlichen Gelder sollten nicht in Stadien gesteckt, sondern für Spitäler und Schulen ausgegeben werden. Und dazu kommt, dass das Geld nicht nur falsch, sondern auch in überrissenen Beträgen ausgegeben wurde: Die brasilianische Weltmeisterschaft ist das teuerste Fussball-Turnier aller Zeiten.

Es heisst, die Proteste hätten zu spät eingesetzt. Die Bevölkerung hätte sich bereits querstellen sollen, als Brasilien als Gastgeberland angekündigt wurde. Aber ich glaube nicht, dass die Weltmeisterschaft für unser Land und unsere Wirtschaft zwangsläufig hätte schlecht sein müssen.

Unerfüllte Erwartungen

Zuerst sahen viele von uns die Weltmeisterschaft als eine Chance für die Entwicklung des Landes. Bei uns fehlt vieles an Infrastruktur – die Untergrundbahn in São Paulo beispielsweise vermag das Passagiervolumen nicht zu bewältigen – und wir glaubten, dass die Weltmeisterschaft Brasilien eine Chance bieten könnte, in unsere Städte zu investieren. Aber dies geschah nicht.

Als die Weltmeisterschaft näher rückte, wurde es den Menschen klar, dass die ausgegebenen Dollarmilliarden unser Land nicht verändern würden – mit Ausnahme der neuen Stadien, die wir jetzt haben. Und dann kam es zu Protesten. Und die Proteste richteten sich nicht nur gegen die schlechte Verwendung unseres Geldes für die Weltmeisterschaft, sondern gegen die schlechte Verwendung unseres Geldes im Allgemeinen. In Brasilien ist es seit Jahren dasselbe: Wir zahlen hohe Steuern, sehen aber keine Veränderung.

Karneval im Juni

Mit Beginn der Spiele scheinen die Brasilianer all diese Fragen vergessen zu haben. Das Land fühlt sich an wie ein grosses Fest, auf dem wir feiern, Leute aus der ganzen Welt treffen – es herrscht Karneval, ohne dass es Februar ist. Dies ist die jetzige Atmosphäre hier. Wir alle feuern unsere Mannschaft an, wir sind alle am Feiern, und die schlechte Verwendung unseres Geldes scheint vergessen worden zu sein.

Erst nach dem Abschluss der Weltmeisterschaft werden wir herausfinden, ob die Geschehnisse vor den Spielen nur die Angst der Menschen widerspiegelte, dass die Spiele missglücken könnten, oder ob es ihnen tatsächlich um ihr Geld ging. Wir werden herausfinden, ob das, was sich jetzt abspielt, heisst, dass die Menschen gelernt haben, Fussball und Politik voneinander zu unterscheiden – und das hoffe ich.

Im Oktober stehen Wahlen an, und nun können wir nur hoffen, dass unsere Bevölkerung gelernt hat, Fussball und Politik voneinander zu unterscheiden, ohne zu vergessen, wie viel es uns kostete, bis wir an diesem Punkt ankamen – und zwar auch dann, wenn Brasilien Weltmeister wird.

Foto: lazyllama - Fotolia.com

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