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Meinungen - 16.11.2015 - 00:00 

Paris-Attentate: Das Ende des Spiels?

Prof. Dr. Emmanuel Alloa über die Spielräume der Demokratie, die es nach den Anschlägen von Paris zu verteidigen gilt. Ein Meinungsbeitrag.

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17. November 2015. Selbst wenn Sicherheitsdienste immer wieder davor gewarnt hatten: auf solcherlei traumatische Ereignisse wie die jüngsten Attentate in Paris wird man sich wohl nie vorbereiten können. Doch während Paris noch die Toten zählt, drängt sich die Frage auf: Auf wen zielte dieser offenbar minutiös geplante Anschlag genau? Offensichtlich haben wir es nicht mit einem französischen 11. September zu tun; es ist gerade keine symbolträchtige Machtzentrale, die hier ins Fadenkreuz genommen wurde, weder World Trade Center noch Pentagon. In Paris wurde am Freitagabend nicht der Präsidentenpalast als Anschlagsziel auserkoren, und genausowenig das Finanzzentrum La Défense, der Eiffelturm oder die Champs Elysées. Anders als bei den Pariser U-Bahn-Anschlägen 1995 oder vergleichbaren Attacken in London (2004) und Madrid (2005) wurden auch keine strategischen Verkehrsknotenpunkte ausgewählt. Die Anschläge galten diesmal einem ganz anderen Ziel, das im Unterschied zu solchen Orten auch mit erheblichem Sicherheitsaufwand kaum zu schützen ist. Es ist der Pariser Osten, dieser besonders offene, lebensfreudige und durchmischte Teil der Stadt, in dem experimentelle und riskantere Lebensformen ihren Platz hatten und in dem Hautfarbe, Herkunft oder Bildungsstand zur Nebensache wurden.

Angriff auf das Herz der Demokratie

Was wäre, wenn der Angriff auf den Pariser Osten keine Verlegenheitslösung darstellte, sondern die Attentäter hiermit auf das Herz dessen zielten, was Demokratie ausmacht, und was fanatische Ideologien wie diejenigen des IS noch nachhaltiger bedroht als Kampfjets und Bomben? Im Osten gibt es noch ein wenig mehr von dieser sozialen Durchlässigkeit, die in der französischen Kapitale wie auch in allen anderen europäischen Grossstädten zunehmend bedroht ist, hier mischten sich an Wochenenden in den unzähligen Bars Studierende, Hipster und Lebenskünstler mit ausgehhungrigen Jugendlichen aus der nahen Banlieue. Vielleicht sassen einige der Attentäter vor ein paar Jahren noch selbst an einiger dieser Terrassen, vielleicht waren sie selbst bei Live-Gigs im Konzertsaal Bataclan gewesen, in denen man am Eingang notorisch nicht nach Aussehen oder Kleidung aussiebte. Attentäter und Opfer – das ist hier das Verstörende – gehörten ein und derselben Generation an. Genau dieses Frankreich nun, so scheint es, war im Visier der Attentäter. Keine Orte der Macht war es diesmal, die dem Terror zum Opfer fielen, sondern nur Orte des Spiels: Orte, an denen Musik gespielt wurde oder Theater (aber natürlich auch schlicht Fussball: das Stade de France, an dem ein Freundschaftsspiel ausgetragen wurde), Bühnen auf denen mit Identitäten und Masken gespielt wurde (am Samstagabend hätte im Bataclan wieder eine Queer-Party stattgefunden).

Diversität verteidigen

Es ist diese Vielschichtigkeit und Meinungsvielfalt, welche die Ideologen des erzwungenen Einheitsdenkens nachgerade beunruhigt, und welche diese im Gegenzug mit Terrorherrschaft und inszenierter Barbarei zu beunruhigen versuchen. Wer dagegen den Ausnahmezustand verhängt, bringt die Attentätern ein wenig näher an ihr Ziel heran, die Erklärung des Ausnahmezustands nämlich nicht nur in den von ISIS kontrollierten Gebieten, sondern auch in Europa zu erzwingen. Am Sonntag wurde die Bevölkerung aufgefordert, zuhause zu bleiben und bei spontanen Solidaritätsbekundungen löste ein banaler Fehlalarm bereits heillose Panik aus: wer sich versammelt, so die Aussage der Sicherheitskräfte, schwebt bereits in Gefahr.

Genau hierin wird in Zukunft die Herausforderung für ein demokratisches Europa liegen. Nicht von aussen kommt die Bedrohung, es geht nicht um barbarische Horden, die an den Toren des Kontinents lagern. Der eigentliche Kampf wird sich ganz woanders abspielen, im Innern, ob die Angstmacher siegen werden, oder ob Europa bereit sein wird, jene Diversität weiter zu verteidigen, die es zugleich extrem verwundbar und unendlich resistent sein lassen. Es geht, mit einem Wort, um die Spielräume der Demokratie.

Photo: www.photocase.com / Andre Schütt

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